Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
nicht mehr will. Ich sag ihm, ich hab Pläne. Von der ganzen Düsternis in mir, dem ganzen Müll wegen all des Drucks muss er nichts wissen. Sonst wird er darauf drängen, dass ich eine Auszeit nehme, zum Coach gehe, den Posten wechsle. Auf jeden Fall wird er versuchen, mich zum Bleiben zu bewegen.
NEIN! NIEMALS!
Ich will doch raus, ich muss raus. Also zielsicher mit der Begründung kündigen, dass ich mich selbständig machen will. Ist ja nicht gelogen. Was soll schon passieren? Ich kann es nicht in Worte fassen, aber irgendwas ist da. Ich weiß, dass ich es tun muss, tue es aber nicht. Stattdessen schieb ich’s auf. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Mir fehlt die Kraft. Ich laufe wie eine Maschine. Sitze ich im Büro, versuche ich, alle Gefühle, alle Gedanken zu unterdrücken, die nicht mit der Agenda des jeweiligen Tages zu tun haben. Das klappt manchmal ganz gut, oft klappt es nicht.
Der schönste Moment der Woche ist Freitagabend, so um neun, halb zehn. Dann spuckt mich der Garagenschlund des Betonmonsters namens Verlagshaus aus, der mich jeden Morgen verschluckt. Je nach Dienstplan: ein oder zwei Tage Ruhe! Freitagabend im Auto in der Tiefgarage ist der einzige Moment der Woche, in dem sich alles leicht anfühlt. Leicht, ohne dass ich meine Synapsen künstlich stimuliert habe. Leicht geht sonst nur, wenn ich drei Cuba libre trinke oder eine Flasche Rotwein. Oder wenn ich einen Joint rauche. Oder ein Näschen ziehe. Oder als Feierabend-Leckerli meinen morgendlichen Baldrian-Aspirin-Mix in vierfacher Dosis nasche. Irgendwas davon ist abends meistens, oft auch ein bisschen hiervon, ein bisschen davon.
Freitags also mit der natürlichen Leichtigkeit ins Wochenende. Da versuche ich aufzutanken. Energie saugen. Ich will mich mit ihr wappnen und munitionieren, um nächste Woche wieder durchzuhalten. Meist bleibt der Akku ziemlich leer. Ein Samstag läuft so ab: Morgens klingelt mein Sohn. Gerädert mach ich auf, drücke ihn, könnte sofort weinen, verkneife es mir angestrengt. Ich versuche, mich zu sammeln, meine Stimme fest klingen zu lassen.
«Wie war deine Woche, mein Schatz?»
«Was gab’s in der Schule?»
«Geht’s Mama gut?»
«Schön, dass du da bist. Ich hab mich auf dich gefreut.»
«ICH HAB MICH AUCH AUF DICH GEFREUT, PAPA.»
«Wie schön …» Meine Stimme wird brüchig. Mein Herz bebt.
Ein paar Minuten später gehen wir durchs Viertel. Mein Sohn greift meine Hand. Ich drücke sie und kann nichts sagen. Der Kloß im Hals versperrt meinen Worten den Weg. Wir gehen frühstücken, immer in den kleinen Schweizer Käseladen. Für meinen Sohn ein Müsli mit Milch, dazu eine Rivella -Brause. Für mich ein Käsefrühstück mit Ei, doppelten Espresso, große Rhabarber-Schorle. So schmeckt mein Wochenend-Gefühl.
Wir gehen einkaufen, auf dem Wochenmarkt am Bioland-Stand treffen wir die Zweite Bürgermeisterin. Sie ist bei den Grünen, ihr Mann Lehrer an der Schule meines Sohns, die beiden wohnen in unserem Viertel.
«Hey, hallo, Herr Onken. Wie geht’s?»
«Etwas stressig in der Redaktion, aber sonst alles okay.»
Das stimmt nur so halbwegs. Tatsächlich dreh ich ordentlich am Rad. Und außerhalb der Arbeit ist bei weitem nicht alles okay. Aber das muss ich nicht auf eine freundliche Floskel auf dem Wochenmarkt hin erklären.
Die Zweite Bürgermeisterin steht auch unter Strom. Sie hat einen Volksentscheid zu ihrem wichtigsten Regierungsprojekt, der Schulreform, verloren. Die Koalition mit der CDU hängt am seidenen Faden. Sie wirkt derzeit nicht so, als mache ihr der Job noch viel Spaß. Eher so, als halte sie ihn aus. Da geht es uns ganz ähnlich.
Wir setzen unsere Samstagstour fort. Nächster Programmpunkt: Hemden in die Reinigung bringen, sie riechen nach Stress. Danach noch zehn Minuten Solarium. Licht! Neulich habe ich gelesen, das helle die Laune auf. Wir gehen wieder nach Hause. Ich lege mich auf die Couch. Da, wo mein Hintern liegt, ist das früher mal feste Polster weichgelegen. Nach nicht mal drei Jahren. IKEA. Mein Sohn startet die Wii.
Die Samstagszeitungen. Ich kann mich nur fünf Minuten konzentrieren. Meine Gedanken kreisen, die Zeit geht verloren. Ich möchte sie anhalten. Mein Atem ist flach, und ich merke, wie mein Mund verklebt. Ich will mit meinem Kind sprechen, ihm ein guter Vater sein, ihm Stärke geben, ihm eine Anleitung fürs Leben vermitteln. Ich schweige. Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Eine Ewigkeit. Die Stimmung ist erdrückend. Mein
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