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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Hoban
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    »Ich will mir ein Buch holen.« Es ist sicher nicht der Grund, warum sie hinwill, aber es ist zumindest eine Ant wort. » Bulfinchs Mythologie . Ich würde gern die Ausgabe meines Vaters haben.«
    Guy nickt nachdenklich. »Tja, wie es aussieht, bin ich dann wohl derjenige, der ein Auto organisieren muss.«

KAPITEL VIERZEHN
    Es war ja klar, dass es regnen würde.
    Willow starrt durch die Windschutzscheibe, aber außer den unaufhörlich prasselnden Regentropfen, dem vergeblichen Hin und Her der Scheibenwischer und dem gelegentlichen Zucken eines Blitzes gibt es nichts zu sehen.
    Trotz des strahlenden Herbstwetters der letzten Tage und obwohl der Wetterbericht blauen Himmel vorhergesagt hat, wusste sie in der Sekunde, in der sie zu Guy ins Auto stieg, dass es gleich in Strömen regnen würde.
    Sie fragt sich, ob es Guy nervös macht, die Strecke bei so schlechtem Wetter zu fahren – bis jetzt hat der Regen nur einmal kurz nachgelassen, und zwar direkt bevor es zu hageln anfing. Oder macht er sich Sorgen, sie könnte sich Sorgen machen, dass sie einen Unfall haben. Noch einen Unfall.
    Aber sie hat keine Angst, ihr ist bloß unbehaglich zumute. So viel Regen hat einfach etwas Beunruhigendes an sich.
    »Hier müssen wir abbiegen, oder?«
    Willow antwortet nicht. Sie schaut aus dem Fenster und versucht durch die regennasse Scheibe irgendetwas da draußen zu erkennen, aber es ist zwecklos. Und unnötig. Sie würde selbst mit verbundenen Augen wissen, wo sie ist.
    »Willow? Abbiegen oder nicht?«
    »Halt an.«
    »Was?«
    »Halt den Wagen an.«
    Guy fährt an den Straßenrand, der an ein offenes Feld grenzt. »Alles okay? Willst du lieber …«
    Ohne das Ende seines Satzes abzuwarten, reißt sie die Tür auf und zögert nur einen kurzen Augenblick, bevor sie sich in den strömenden Regen stürzt.
    Innerhalb von Sekunden ist sie bis auf die Haut durchnässt, aber sie spürt kaum etwas davon, während sie über das Feld stolpert. Dort hinten, vielleicht vier, fünf Meter vom Straßenrand entfernt, steht eine riesige alte Eiche.
    »Wo willst du denn hin?«, ruft Guy ihr hinterher, bevor er schließlich selbst aus dem Wagen steigt und durch den Regen bis zu dem Baum joggt, vor dem sie mittlerweile stehen geblieben ist.
    »Willow!«, brüllt er, um einen Donnerschlag zu übertönen. »Komm! Im Wagen ist es sicherer.« Er greift nach ihrem Arm.
    Sie sieht ihn an, ohne ihn zu sehen. Dann streckt sie die Hand aus und berührt den Stamm an einer Stelle, an der ein Großteil der Rinde abgeschabt ist und wo stattdessen ein großer mitternachtsblauer Farbfleck prangt.
    Seltsam, dass er nach all den Monaten, nach all den Regengüssen, immer noch da ist.
    Sie sinkt vor dem Baum auf die Knie. Das Knistern von Zellophan lässt sie nach unten schauen und es braucht einen Moment, bis sie begreift, dass sie auf den Überresten von Dutzenden dort niedergelegten Blumen kniet, die sich mittlerweile in Kompost verwandelt haben und von deren Existenz nur noch ein paar schmutzige Schleifen und zerrissene Plastikfolie zeugen.
    Der Anblick müsste sie vor Trauer zusammenbrechen lassen, verstören oder zumindest betroffen machen, aber eigentlich fühlt Willow nur, wie ungemütlich es ist, völlig durchnässt mitten im Regen zu knien. Die Dramatik des Unwetters, die Bedeutungsschwere dieses Ortes – es berührt sie nicht, hat keine Macht über sie. Sie weiß nicht, wonach sie gesucht hat, was sie erwartet hat, aber bestimmt nicht diese Leere, diese Bedeutungslosigkeit.
    Guy wirkt viel betroffener als sie. Als er begreift, was die abgeschabte Rinde, die Farbspuren und die verrotteten Blumengaben bedeuten, wird er kreidebleich.
    »Lass uns gehen.« Sie steht auf. »Komm.« Sie nimmt seine Hand und zieht ihn zum Wagen zurück.
    Guy steigt ein, schlägt die Tür zu und wirft ihr einen prüfenden Blick zu, aber er sagt nur: »Noch ungefähr zweieinhalb Kilometer, richtig?«
    »Genau. Die nächste links und dann immer geradeaus.«
    Für den Rest der Fahrt sagt keiner von ihnen ein Wort. Willow hofft, dass es Guy nicht genauso kalt und ungemütlich ist wie ihr.
    »Ist es das?«
    »Ja. Da, wo der Briefkasten steht.«
    Er biegt in die Einfahrt ein und stellt den Motor ab. Sie ist zu Hause. Nach all diesen Monaten ist sie zu Hause.
    Sie steigt so langsam und zögerlich aus dem Wagen, als wäre sie plötzlich alt und gebrechlich geworden. Der Regen prasselt unaufhörlich auf sie nieder, lässt ihre bereits völlig durchnässten Kleider an ihrer Haut

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