Bis unter die Haut
fassungslos, dass es ihr fast die Sprache verschlägt. Sie erhebt sich halb von ihrem Platz und starrt ihre alte Freundin an, als würde sie ein Gespenst sehen. Nach all den Monaten, nach all den Anrufen, auf die sie sich nie zurückgemeldet hat, steht sie ihrer besten Freundin schließlich doch gegenüber.
»Was machst du hier?«, fragt sie, als Markie auf ihren Tisch zukommt. »Ich meine, warum bist du nicht in der Schule?«
»Was ich hier mache? Ich wohne hier um die Ecke. Aber was machst du hier?« Sie schaut Willow ungläubig an, als könnte sie es genauso wenig fassen, dass das, was sie sieht, wirklich real ist.
»Du hast dir die Haare abschneiden lassen.« Etwas Geistreicheres fällt Willow vor lauter Schreck nicht ein.
»Ja, dreißig Zentimeter sind ab …« Sie hält inne und blickt zwischen Willow und Guy hin und her.
»Oh, ähm, entschuldige – das ist Guy. Guy, das ist Markie, aber das hast du wahrscheinlich schon mitbekommen.«
»Hallo, Markie. Willow hat mir von dir erzählt«, sagt Guy, dem die Situation bei Weitem nicht so unangenehm zu sein scheint wie ihnen.
Seine Bemerkung überrascht sie. Sie klingt zwar wie eine Phrase auf einer Cocktailparty, aber sie ist ihm dankbar dafür. Willow sieht ihrer alten Freundin an, wie sehr sie sie verletzt hat, und sie hofft, dass Guys Worte ihr wenigstens zeigen, dass sie sie nicht vergessen hat und dass ihre Freundschaft ihr immer noch viel bedeutet.
»Hi.« Markie nickt ihm kurz zu und richtet ihre Aufmerksamkeit dann gleich wieder auf Willow. »Also, erzähl. Was machst du hier?«
»Ich … Ich hab etwas von zu Hause gebraucht«, antwortet Willow zögernd. Es ist das Einzige, was ihr einfällt, und sie ist ja eigentlich wirklich nur hier, weil sie den Bulfinch holen wollte. »Und du? Es ist mitten am Tag«, gibt sie die Frage an Markie zurück.
»Ach, nur was für meine Mutter besorgen.« Markie zuckt mit den Achseln. »Sie gibt ein Abendessen. Und in der Schule hatten wir einen Rohrbruch, das ganze Gebäude steht unter Wasser. Wir haben die nächsten zwei Tage unterrichtsfrei, so lange brauchen sie wohl, um alles wieder halbwegs in Ordnung zu bringen.« Sie spricht abgehackt und schnell.
»Statt hitzefrei rohrbruchfrei …« Willow versucht zu lä cheln, aber es verrutscht zu einer nervösen Grimasse.
»Ich geh uns mal etwas bestellen.« Als Guy aufsteht, wirft er Willow einen Blick zu. Anscheinend wartet er darauf, dass sie Markie bittet, sich zu ihnen zu setzen.
»Oh, ich muss gleich wieder los«, sagt Markie hastig. Offensichtlich möchte sie Willow keine Gelegenheit dazu geben, sie schon wieder abzuweisen. Aber sobald Guy sich zur Theke aufgemacht hat, rutscht sie doch zu ihr auf die Bank. Sie sieht Willow immer noch ein bisschen fassungslos an. Jetzt sitzen sie hier und schweigen, aber die Stille fühlt sich nicht wie das einvernehmliche Schweigen zwischen zwei alten Freundinnen an.
»Die kurzen Haare stehen dir total gut«, sagt Willow schließlich.
»Danke.« Markie sieht nicht besonders geschmeichelt aus. Sie mustert Willow aufmerksam. »Ich hab dich nicht mehr mit einem Zopf gesehen, seit du ungefähr sechs warst. Ich weiß noch, wie deine Mom ihn dir immer geflochten hat.«
Tatsächlich?
Das hatte sie völlig vergessen, aber jetzt erinnert sie sich wieder, wie ihre Mutter mit einer Bürste hinter ihr saß und sie selbst auf einem Schemel herumzappelte, weil sie unbedingt mit Markie draußen spielen wollte.
Sie blinzelt ein paarmal, um das Bild zu vertreiben und sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. »Und? Kommst du jetzt besser mit deinen Haaren klar, seit sie so kurz sind? Du hast ja immer eine Ewigkeit gebraucht, bis du sie endlich trocken geföhnt hattest …« Sie ist selbst entgeistert, dass ihr nach so vielen Monaten nicht mehr einfällt, dass ihre Freundschaft sich auf Small Talk reduziert hat – und sie weiß, dass das ganz allein ihre Schuld ist.
Aber Markie reagiert gar nicht darauf, sondern kommt jetzt, wo sie allein sind, direkt zur Sache. »Meine Mutter meinte, du hättest deswegen nie zurückgerufen oder gemailt oder dich sonst wie gemeldet, weil im Moment alles ziemlich hart ist für dich …«
»Das stimmt auch.« Willow ist froh, dass sie die Chance hat, sich zu erklären, und beugt sich über den Tisch. »Weißt du –«
»Aber ich hab gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann«, fällt Markie ihr ins Wort. »Weil du es mir nämlich erklärt hättest. ›Hör zu, Markie‹, hättest du gesagt,
Weitere Kostenlose Bücher