Bis unter die Haut
sieht beunruhigt aus.
Sie will nicht mit ihm reden. Sie will sich ganz auf den Schmerz an ihrem Bein konzentrieren. Will weiter mit dem Schuh über die Wunde reiben, damit es noch mehr wehtut. Aber das darf sie nicht. Irgendwo ganz weit hinten in ihrem Kopf weiß sie, dass sie sich zusammenreißen muss, wenn sie verhindern will, dass dieser Vorfall Konsequenzen nach sich zieht: ein Termin beim Vertrauenslehrer, ein unangenehmes Gespräch. Vielleicht würde ihr Bruder einbestellt werden. Nicht nur vielleicht, ganz sicher sogar. Der Gedanke reicht, um sie in die Wirklichkeit zurückzustoßen.
»Willow? Ist alles in Ordnung?« Mr Moston klingt ehrlich besorgt. Aber ist er es auch? Sie kann es nicht beurteilen. Nicht mehr. Während der letzten sieben Monate ist sie zu oft gefragt worden, ob alles in Ordnung sei, genau in diesem Tonfall.
Willow kann ihn nicht mehr hören.
»Ist alles in Ordnung?«, wiederholt er noch einmal, und sie muss an sich halten, nicht laut aufzulachen. Woher kommt es eigentlich, dass man immer dann gefragt wird, ob alles in Ordnung ist, wenn völlig offensichtlich ist, dass nichts in Ordnung ist?
»Kann ich vielleicht irgendetwas für Sie tun?«, fragt er weiter.
Willow hat Angst, dass er ihr als Nächstes anbieten wird, sie ins Krankenzimmer zu bringen, oder, noch schlimmer, David zu benachrichtigen. Sie muss jetzt irgendetwas antworten, und zwar schleunigst.
»Nein. Vielen Dank«, sagt sie schließlich. »Alles in Ordnung. Wirklich. Mir war nur …« Sie verstummt und hofft, dass Mr Moston vor lauter Erleichterung, dass sie wieder ansprechbar ist, nicht weiter in sie dringen wird.
»Hätten Sie vielleicht Lust, mir bei ein paar Unterrichtsvorbereitungen im Physikraum zu helfen?«, fragt er. Er klingt, als würde er einer Fünfjährigen ein Eis anbieten.
»Okay«, würgt sie nach ein paar Sekunden hervor. »Ich komme mit.« Immerhin steht Physik als Nächstes auf ihrem Stundenplan.
Willow richtet sich auf. Sie spürt, wie an ihrem rechten Bein ein bisschen Blut hinunterläuft, und konzentriert sich darauf, während sie ihm zum Physikraum folgt.
Mr Moston drückt die Tür auf und sie tritt hinter ihm in den miefigen Raum. Obwohl die Stunde noch nicht angefangen hat, ist bereits ein anderes Mädchen dort.
»Hey, Vicky, wie kommen Sie mit dem Versuch voran?«, fragt Mr Moston.
Das Mädchen hebt erschrocken den Kopf. »Ähm, na ja, noch nicht so gut«, stammelt sie nervös. »Aber ich glaube, dieses Mal kriege ich es hin.«
»Okay.« Mr Moston nickt. »Dann lassen Sie sich nicht weiter stören.« Er blättert den Papierstapel durch, den er unter den Arm geklemmt hatte, und runzelt die Stirn. »Willow,« er blickt auf, »ich muss noch mal kurz in mein Büro und die korrigierten Hausaufgaben von letzter Woche holen. Möchten Sie mitkommen, oder ist es okay, wenn Sie hier warten?«
»Gehen Sie ruhig, ich komm schon klar«, versichert Willow ihm, aber es ist ihr peinlich, dass er sie wie eine Art Sorgenkind behandelt, was sie wohl auch irgendwie ist, aber das muss er ja nicht gleich allen auf die Nase binden. Sie wirft Vicky einen verstohlenen Blick zu, aber die ist zum Glück viel zu sehr mit ihrem Versuch beschäftigt, um groß auf sie zu achten. Wahrscheinlich hat sie die Bemerkung nicht einmal gehört.
Willow legt ihre Tasche auf einen Tisch und setzt sich auf einen der Hocker, während Mr Moston aus dem Raum eilt. Sie seufzt erleichtert. Endlich kann sie sich wieder dem Schnitt an ihrem Bein widmen.
Sie stützt das Kinn in die Hände und schaut Vicky mit unbeteiligter Miene dabei zu, wie sie konzentriert vor sich hin arbeitet. Es ist wichtig, dass ihr Gesicht keinerlei Regung zeigt. Ihre Miene darf auf keinen Fall verraten, was gerade unter der Tischplatte vor sich geht. Sie darf auf keinen Fall verraten, dass sie versucht, den Schnitt noch weiter aufzureißen.
Sie kommt sich vor wie eine Frau, die während eines steifen Galadiners mit ihrem Liebhaber füßelt.
Ihr Bein tut weh. Unglaublich, dass ein fünf Zentimeter langer Schnitt solche Schmerzen verursachen kann. Es ist wirklich ganz einfach – man muss ihn nur öffnen, bevor er verheilt ist, und dann versuchen, ihn mit etwas Stumpfem, zum Beispiel mit der Spitze eines Turnschuhs, auf sechs oder sieben Zentimeter zu vergrößern.
Jetzt, da der Schmerz wie eine Droge durch ihre Adern pulsiert, kann Willow endlich wieder über andere Dinge nachdenken. Sie schaut Vicky bei ihrem Versuch zu, versteht aber nicht, was sie genau
Weitere Kostenlose Bücher