Bis unter die Haut
gib ihm endlich das verdammte Ding.
»Hier«, sagt sie schroff und greift nach der Monografie, die ihr Vater vor ungefähr fünf Jahren veröffentlicht hat. Sie kann sich noch gut daran erinnern. Die ganze Familie war nach Guatemala gereist, wo ihr Vater vor Ort für das Buch recherchiert hat. »Hier«, wiederholt sie und hält es Guy hin. Aber der ist gerade damit beschäftigt, die anderen Bücher, die sie ihm bereits gereicht hat, zu sortieren, und reagiert nicht sofort. »Nimmst du es jetzt vielleicht mal endlich?«, fährt sie ihn wütend an und wirft den schmalen Band nach ihm.
»He! Pass doch auf!« Er versucht ihn zu fangen, lässt dabei jedoch die ganzen anderen Bücher fallen. »Was ist denn los mit dir?«, murmelt er, während er sich bückt.
»Echt super, deinetwegen ist an dem hier der Buchrücken gebrochen.«
Willow sieht ihm dabei zu, wie er das Buch vorsichtig nach weiteren Schäden untersucht. Wieder muss sie daran denken, wie sich seine Hände angefühlt haben, als er ihr gestern den Verband angelegt hat. Genauso behutsam geht er jetzt mit dem Buch um. Anscheinend ist ihm jegliche Zerstörung zuwider, egal ob es sich dabei um Papier oder Haut handelt.
»So geht man doch nicht mit Büchern um«, tadelt er sie, aber sie kann es ihm nicht verübeln. Sie weiß, dass ihr Vater genauso entsetzt gewesen wäre. »Dabei ist das hier sogar eine Erstausgabe«, fügt er hinzu. »Mit so was muss man doch …« Er verstummt, als er das Buch ihres Vaters aufhebt, und betrachtet es nachdenklich.
»Sind wir hier fertig?«, fragt Willow schroff.
»Mit den Büchern, ja.« Guy klingt ein bisschen betreten. »Hör zu, warum setzen wir uns nicht einfach einen Moment hin.« Er klemmt sich die Monografie so unter den Arm, dass das Bild ihres Vaters nicht mehr zu sehen ist, wie sie bemerkt. Es irritiert sie, dass er so rücksichtsvoll ist, irgendwie wirkt es aufgesetzt.
»Soll das Ganze hier vielleicht so eine Art Test werden?«, platzt es aus ihr heraus. »Nur um mal zu sehen, wie weit du gehen kannst?« Vielleicht hat sie sich in ihm getäuscht. Vielleicht hat sie sein Verhalten vorhin falsch interpretiert. Vielleicht hat er die Unterhaltung mit Laurie nicht aus Rücksicht auf ihre Gefühle auf andere Themen gelenkt, sondern aus purer Langeweile. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und funkelt ihn wütend an.
»Natürlich nicht«, sagt er. »Das Buch brauch ich wirklich. Ich hab nur völlig vergessen, was es für eins ist. Ich meine, von wem es ist. Sorry, ich hätte es mir selbst raussuchen sollen.«
Er wirkt ehrlich betroffen, und tief in ihrem Inneren spürt Willow, dass sie sich nicht in ihm getäuscht hat. Er ist rücksichtsvoll.
»Es tut mir leid«, sagt sie nach einer Weile und schämt sich dafür, so aggressiv reagiert zu haben. Sie löst die Arme aus der Verschränkung und versucht ein Lächeln. »Das Buch gefällt dir bestimmt. Es ist echt gut.«
»Davon bin ich überzeugt«, beeilt er sich zu sagen. »Ich …« Er zögert. »Ich war mal bei einem Vortrag von deinem Vater.«
»Wirklich?«, fragt Willow atemlos. »Wo? Wann? Weißt du, ob meine Mutter auch da war?« Die Fragen stürzen nur so aus ihr heraus. »Wovon hat der Vortrag gehandelt?«
»Davon.« Guy deutet auf das Buch. »Von der Reise nach Guatemala. Und ja, deine Mutter war auch da. Der Vortrag fand letzten Winter im Museum statt.«
»Oh Gott.« Sie presst sich die Hand auf den Mund. Sie wird gleich die Beherrschung verlieren. Sie wird hier und jetzt in diesem verdammten Magazin die Beherrschung verlieren. Sie ist bestürzt darüber, wie plötzlich sich ihr Mund mit bitterer Gallenflüssigkeit füllt. Doch noch im gleichen Atemzug wird ihr klar, dass sie sich eigentlich nicht darüber zu wundern braucht. Sie hat sich darauf konditioniert, den seelischen Schmerz in körperlichen zu verwandeln, und ohne die Rasierklinge bleibt ihrem Körper gar nichts anderes übrig, als auf diese Weise zu reagieren. Sie macht sich buchstäblich selbst krank.
Sie weiß genau, von welcher Vortragsreihe Guy spricht. Sie ist damals nicht hingegangen, warum auch? Sie hatte unzählige ähnliche Vorträge von ihren Eltern gehört und würde in ihrem Leben noch genügend weitere hören. Aber die Vortragsreihe vorigen Winter war ihre letzte gewesen. Weil Willow sie ein paar Wochen später in den Tod gefahren hat.
»Oh Gott! Entschuldige, Guy, aber … Ich glaub … ich muss mich übergeben!«
In diesem Moment geht automatisch das Licht aus. Guy schlägt mit
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