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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Hoban
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das nicht die wirklich interessanten Fragen! Ich würde gern wissen, warum jemand den ersten Spiegel hergestellt hat. Mir ist natürlich klar, dass die Leute sich schon vorher gesehen haben müssen, zum Beispiel in der Wasseroberfläche von Tümpeln, aber das ist überhaupt nicht das Gleiche. Was haben die ersten Menschen, die sich selbst in einem echten Spiegel betrachtet haben, gedacht? Hat es sie verlegen gemacht oder gefiel ihnen, was sie sahen? Ich möchte etwas über die Dinge erfahren, die man nicht durch das Kohlenstoffdatierungsverfahren oder durch Ausgrabungen herausfinden kann. Ich habe Fragen, deren Antworten man sich nur vorstellen kann.«
    »Das sind ziemlich faszinierende Gedanken«, sagt Guy und nickt. »Und mich würde total interessieren, wie die Antworten deiner Meinung nach, sorry, deiner Vorstellung nach, aussehen könnten.«
    »Ach, ich habe aufgehört, über solche Dinge nachzudenken.« Willow schüttelt den Kopf. »Jetzt denke ich nur noch an den Tag, der vor mir liegt, und wenn das zu viel ist, an die nächste Stunde.«
    Und wenn das auch noch zu viel ist, dann weiß ich mir schon zu helfen.
    Sie verfällt in Schweigen. Genau wie Guy, der darüber nachzudenken scheint, was sie erzählt hat. Sie ist überrascht über die Wendung, die ihre Unterhaltung genommen hat. Als er vorhin ankündigte, dass sie reden müssten, hätte sie nie gedacht, dass sie ihm von Çatalhöyük erzählen würde. Nicht einmal mit Markie hat sie jemals darüber gesprochen. Sie ist auch überrascht, wie ruhig sie ist, und ihr wird klar, wie viel Angst sie vor dem Gespräch gehabt hat.
    Trotzdem ist sie nicht auf die Frage vorbereitet, die Guy als Nächstes stellt.
    »Willst du nicht damit aufhören?!«, fragt er sie plötzlich. Sie weiß sofort, was er meint. »Wie kannst du dir das nur antun? Wenn man dir zuhört … Du bist so unglaublich …«
    »Ich bin so unglaublich was ?« Sie kann nicht anders, sie muss einfach fragen. »Was?«
    »Ach, schon gut.« Er wendet den Blick ab.
    Ein paar Minuten lang sagt keiner von ihnen ein Wort. Es ist so leise, dass sie seine Atemzüge hören kann. Das Geräusch beruhigt sie irgendwie. Am liebsten würde sie einfach nur so mit ihm dasitzen, seinem Atem lauschen und den winzigen Staubpartikeln zusehen, die in den durchs Fenster fallenden Sonnenstrahlen tanzen.
    »Willst du nicht damit aufhören?«, sagt er noch einmal, nur dass er es dieses Mal fast flüstert.
    Willow möchte nicht darüber reden, dass sie sich ritzt, mit ihm nicht und mit niemandem sonst. Aber es ist eine interessante Frage, eine, auf die nicht jeder kommen würde. Die meisten Leute würden davon ausgehen, dass sie schon von selbst aufhören würde, wenn sie es wollte. Aber sie weiß, dass es bei Weitem nicht so einfach ist, und Guy weiß es anscheinend auch.
    Nach allem, was er für sie getan hat – dass er sie nicht bei ihrem Bruder verraten hat und bereit gewesen wäre, ihr die Haare aus dem Gesicht zu halten –, hat sie das Gefühl, ihm eine Antwort schuldig zu sein.
    »Wenn die Umstände anders wären, und damit meine ich nicht, wenn meine Eltern noch am Leben wären, aber wenn die Umstände anders wären, dann, ja … dann würde ich aufhören wollen.«
    »Was müsste anders sein?«
    »Darüber kann ich nicht mit dir sprechen.«
    Guy erwidert nichts darauf. Er schaut sie einfach nur mit unergründlicher Miene an, aber Willow spürt sein Unbehagen, seine Nervosität. Das hat sie nicht erwartet. Sie hat damit gerechnet, dass er ihr ins Gewissen redet, sie vielleicht sogar anschreit, aber nicht damit, dass er so hartnäckig versuchen würde, diese ganze Sache irgendwie zu verstehen.
    Ohne den Blick von ihr abzuwenden, greift er nach ihrer Hand. Die Zärtlichkeit, mit der er es tut, berührt sie, und einen winzigen Moment lang erlaubt sie sich, sich vorzustellen, dass die Umstände anders wären. Dass er nicht wüsste, dass sie eine Ritzerin ist. Dass sie keine Ritzerin wäre.
    Was wäre, wenn ihr Arm verbunden wäre, weil sie beim Inlineskaten gestürzt ist? Bei irgendetwas ganz Normalem … ganz Unschuldigem. Was wäre, wenn sie jetzt hier oben säßen, um miteinander allein zu sein und nicht, um sicherzugehen, dass niemand Zeuge ihres kranken Pakts wird? Was wäre, wenn sie einfach weiter miteinander reden und lachen könnten wie noch vor ein paar Minuten und sich nicht mit der hässlichen Realität auseinandersetzen müssten?
    Guy schiebt ihren Ärmel hoch, und sie glaubt, dass er nachsehen will, ob der

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