Bis unter die Haut
in deinem Alter war. Ich hätte damals alles dafür getan, um den Fittichen meiner Eltern zu entkommen. Apropos, wie geht es deinen Eltern, David? Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, seit ich sie zuletzt gesehen hab, aber ich werde es deinem Vater nie vergessen, dass er damals diese Empfehlung für mich geschrieben hat. Das war wirklich unglaublich nett von ihm.«
Willow zuckt innerlich zusammen. Stephens Loblied auf ihren Vater schneidet ihr förmlich in die Seele. Sie rückt automatisch einen Schritt näher an David heran. Am liebsten würde sie nach seiner Hand greifen, um ihm zu zeigen, dass sie bei ihm ist und ihm in dieser schmerzvollen Situation zur Seite steht. Denn im Gegensatz zu vorhin bleibt ihm jetzt nichts anderes übrig, als mit der schrecklichen Wahrheit herauszurücken. Davids Schweigen zieht sich immer unerträglicher in die Länge, während Stephen ihn erwartungsvoll ansieht.
»Er … Er hat immer sehr viel von dir gehalten«, antwortet David schließlich, mehr nicht.
Willow ist fassungslos. Warum sagt David ihm nicht, was passiert ist? Warum erzählt er ihm nicht, dass der Mann, den er so bewundert hat, gestorben ist? Und seine Frau gleich mit ihm. Dass sie die Schuld daran trägt? Dass sie nicht deswegen bei David und Cathy lebt, um den Fittichen ihrer Eltern zu entkommen , sondern weil ihre Eltern tot sind?
Was ist bloß los mit ihm? Warum weigert er sich so hartnäckig, den Tatsachen ins Auge zu sehen?
Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern ist sie wütend auf ihren Bruder. Nein, sie ist sogar stinksauer. Wovor hat er so eine Heidenangst? Warum tut er immer so, als wäre nichts passiert?
Jetzt ist das Maß voll. Ihr reicht es. Plötzlich verspürt sie keinerlei Bedürfnis mehr, ihn zu schützen. Ihm mit irgendwelchen idiotischen Komplimenten ein Lächeln zu entlocken oder mit einem dämlichen Buch eine Freude zu bereiten. In diesem Moment hasst sie ihn beinahe.
Sie möchte die Sache unbedingt richtig stellen. Sagen, nein, herausbrüllen , wie es wirklich ist.
Tut mir leid, Stephen, aber David hat dir nicht alles gesagt. Unsere Eltern sind tot. Ich habe sie getötet. Und deswegen lebe ich bei ihm und seiner Frau. Jetzt weißt du, wie viel sich in so kurzer Zeit wirklich ändern kann.
Aber sie schafft es nicht.
Sie kocht schier vor Wut darüber, dass sie ohnmächtig daneben stehen und Davids absolut unbegreifliches Verhalten einfach hinnehmen muss, während sein Freund weiter über seine dämliche Jobsuche schwadroniert.
»… deswegen hoffe ich, dass es mit einer Stelle in der Nähe klappt, schließlich komme ich ja von hier und …«
Plötzlich weiß sie, wie sie David aus der Reserve locken und dazu zwingen kann, Stephen die Wahrheit zu sagen. Sie zerrt den Rucksack von der Schulter und zieht die Französischklausur heraus. »Hier«, sagt sie so laut, wie sie sich traut, und unterbricht Stephen mitten im Satz. »Hier!«, wiederholt sie und streckt David ungeduldig die Arbeit hin. »Du musst das unterschreiben!«
Die beiden Männer sehen sie erschrocken an.
Gut.
»Nun mach schon, David!« Sie schiebt ihm einen Stift in die Hand. »Ich muss die Arbeit morgen von einem Erziehungsberechtigten unterschrieben meiner Lehrerin vorlegen.« Triumphierend lässt sie den Blick zwischen ihrem Bruder und seinem Freund hin und her wandern. Wartet darauf, dass Stephen fragt, was sie mit Erziehungsberechtigtem meint, und dass David vor Entsetzen die Gesichtszüge entgleisen.
Aber ihr Plan geht nicht auf. Stephen scheint das Schlüsselwort gar nicht mitbekommen zu haben, und David ist zu sehr damit beschäftigt, ihre verhauene Klausur zu verdauen. Und obwohl sich ein besorgter Ausdruck auf sein Gesicht geschlichen hat, ist es offensichtlich, dass er im Gegensatz zu ihr nicht vorhat, ihr vor seinem Freund eine Szene zu machen. Ihr wird klar, dass sie nichts weiter erreicht hat, als wie ein rotziger oder zumindest unglaublich unhöflicher Teenager zu wirken.
»Tja, dann. Ich muss mal wieder weiter«, sagt Stephen nach einer unbehaglichen Pause.
»Viel Glück bei der Jobsuche«, wünscht David ihm, während er seine Unterschrift unter die Arbeit setzt und sie Willow zurückgibt.
Willow sieht Stephen mit einem grimmigen kleinen Lächeln hinterher. Vielleicht hat sie mit ihrer Aktion nicht unbedingt das erreicht, was sie gehofft hatte, aber sie ist sich sicher, dass sie sich jetzt auf eine Standpauke gefasst machen kann, die sich gewaschen hat. Nicht nur wegen der verhauenen Klausur, sondern
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