Bis unter die Haut
ein schrecklicher Unfall«, unterbricht er sie. Er ist kreidebleich, und es kostet ihn sichtlich Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Tatsächlich? Und warum hast du dann Angst, mich mit …«
» Es war ein schrecklicher Unfall «, wiederholt er. »Aber man braucht ein bisschen Erfahrung, um auf ein sechs Monate altes Baby aufzupassen und …«
»Ach komm schon, David«, unterbricht Willow ihn. »Du weißt genau, dass ich schon öfter gebabysittet hab. Gib’s doch endlich zu! Du hast Angst, sie mit mir allein zu lassen. Du hast Angst, weil du glaubst, dass ich …«
»Ich glaube, dass es noch zu früh ist«, schneidet David ihr das Wort ab. »Du hast im Moment ziemlich viel um die Ohren, ich will dir einfach nicht auch noch zumuten …«
»Hör auf damit!«, schreit Willow. »Hör endlich auf damit!« Sie kann seine Ausflüchte nicht länger ertragen. »Sag die Wahrheit! Gib zu, dass du mir die Schuld an ihrem Tod gibst! Dass du mich deswegen hasst!«
Sie schlägt sich die Hand vor den Mund. In ihren Ohren beginnt es zu rauschen, und sie hat Angst, gleich völlig die Fassung zu verlieren. In dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hat, weiß sie, dass es stimmt. Dass ihr Bruder sie nicht mehr liebt und das zerreißt sie fast. Sie klammert sich am Stuhl fest, kämpft verzweifelt gegen die Tränen an. Sie darf jetzt nicht völlig die Kontrolle verlieren, ihrer Trauer freien Lauf lassen. Das würde sie nicht überleben.
Sie schließt einen Moment lang die Augen und versucht, sich zusammenzureißen. Dann steht sie abrupt vom Stuhl auf, der polternd umkippt, und stürmt aus der Küche.
Willow hört, wie David und Cathy ihr etwas hinterherrufen, aber sie blendet es aus. Sie hat nur noch einen einzigen Gedanken: allein sein. Sie rast die Treppe hinauf, stürzt in ihr Zimmer und schließt die Tür hinter sich ab. Erschöpft presst sie die Hände auf die Ohren – sie rufen immer noch nach ihr. Der Lärm soll endlich aufhören. Nicht nur Cathys und Davids Stimmen, sondern das Quietschen der Bremsen. Das knackende Geräusch, als der Kopf ihrer Mutter gegen das Armaturenbrett knallt. Der silberhelle Klang der berstenden Windschutzscheibe.
Willow kann nicht mehr. Sie muss etwas tun, damit es aufhört, muss den Ansturm der Gefühle, der sie zu überwältigen droht, irgendwie aufhalten. Sie kriecht zum Bett, tastet unter der Matratze nach ihrem Geheimvorrat und stößt dabei, wie neulich schon, versehentlich das Telefon vom Nachttisch.
Irgendein Teil von ihr registriert den durchdringenden Ton des Freizeichens. Aber es reicht nicht einmal ansatzweise, um den grauenhaften Lärm in ihrem Kopf zu übertönen. Am ganzen Körper zitternd greift sie nach der Rasierklinge.
Sie hält einen winzigen Moment lang inne. Und plötzlich, ohne sich wirklich bewusst zu sein, was sie da tut, wählt sie die Nummer, die sie bereits auswendig kann.
»Hallo?« Seine Stimme klingt unendlich weit entfernt.
»Hallo?«, wiederholt Guy.
Willow bringt kein einziges Wort heraus. Sie lehnt sich gegen das Bett und knöpft mit zitternden Fingern ihre Bluse auf, blickt auf ihren Bauch hinunter, sucht nach einer geeigneten Stelle und macht den ersten Schnitt – wartet darauf, dass der brennende Schmerz alles andere auslöscht. Es dauert länger als sonst, und ihr Atem geht stoßweise, als sie die Klinge erneut ansetzt und tiefer und tiefer in ihrem Fleisch versenkt.
»Willow?«, fragt Guy. Diesmal klingt er viel näher.
Sie schließt die Augen, versucht, seine Stimme zu sich durchdringen zu lassen. Aber das helle Klirren der berstenden Windschutzscheibe will einfach nicht verstummen, und es wird sogar noch schlimmer. Zu den Geräuschen kommen jetzt Bilder hinzu – das bis zur Unkenntlichkeit zerschmetterte Gesicht ihres Vaters, eine blutende, breiige Masse. Der Blick in den zwar unversehrten, aber erloschenen Augen ihrer Mutter. Sie schneidet noch tiefer, als könnte ihr Blut das ihre fortwaschen.
»Willow?«, hört sie Guy wieder.
Sie sagt nichts, atmet ganz flach. Beobachtet, wie das Blut aus dem Schnitt fließt, aber aus irgendeinem Grund bleibt der körperliche Schmerz diesmal fast aus. Sie setzt die Klinge erneut an, zieht sie mit einer ausholenden Bewegung über die Haut. Und da spürt sie ihn endlich. Aber wird er auch reichen?
»Willow«, wiederholt Guy zum dritten Mal. Nur dass es diesmal nicht wie eine Frage klingt, sondern wie ein verzweifelter Versuch, zu ihr durchzudringen.
Sie konzentriert sich auf seine Stimme,
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