Bis unter die Haut
auf die Rettungsleine, die er ihr zuwirft. Die Bilder verblassen nicht, aber während sie Guys Atem lauscht, lassen die Unfallgeräusche nach.
Die Hand mit der Rasierklinge liegt schlaff neben ihr. Die Wirkung hat endlich eingesetzt. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtet sie, wie das Blut über ihre Haut fließt.
Ihr Atem wird ruhiger, passt sich dem von Guy an. Und bald sind ihre gleichmäßigen, synchronen Atemzüge das einzige Geräusch, das durch Willows Schmerz dringt, während sie, das Telefon wie ein lebendiges Wesen, wie einen Geliebten an sich drückend, in den Schlaf gleitet.
KAPITEL ZEHN
Das Erste, was Willow bemerkt, als sie aufwacht, ist, dass die Deckenlampe irgendwie an der falschen Stelle hängt. Einen kurzen Augenblick später wird ihr klar, warum. Sie selbst liegt an der falschen Stelle. Statt in ihrem Bett, liegt sie immer noch vollständig angezogen auf dem Boden und umklammert ein totes Telefon. So zerschlagen und benommen hat sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie nach dem Unfall im Krankenhaus aufgewacht ist.
Allerdings ist sie nicht so benommen, dass sie nicht sofort wüsste, warum sie auf dem Boden liegt, warum sie immer noch ihre Sachen anhat, warum die Bluse sich am Bauch klebrig anfühlt und warum der schwache metallische Blutgeruch in der Luft liegt.
Sie erinnert sich an alles, was am Abend zuvor passiert ist. An den Gesichtsausdruck ihres Bruders, an den von Cathy …
Und an Guys Stimme am anderen Ende der Leitung, das Geräusch seines Atems, während sie sich geschnitten hat.
Sie dreht sich auf den Bauch, um den Hörer aufzulegen, und zuckt zusammen, als ihre frischen Wunden über den har ten Boden scheuern. Das Kinn in die Hand gestützt, denkt sie darüber nach, dass sie ihn tatsächlich angerufen hat. Sie hätte niemals geglaubt, dass sie das tun würde, als sie damals den Zettel mit seinen Nummern eingesteckt hat. Andererseits hätte sie auch nie damit gerechnet, eines Tages mit ihm im Park zu sitzen und zu lachen, ihm ein Buch zu kaufen oder irgendetwas von den anderen Dingen zu tun, die sie schon zusammen gemacht haben.
Das heißt allerdings nicht, dass sie es nicht bereut, ihn angerufen zu haben. Im Gegenteil. Sie schämt sich unendlich, wenn sie an die unartikulierten Geräusche denkt, die sie von sich gibt, wenn sie sich schneidet. Warum hat sie ihn zum Zeugen gemacht? Ihn gezwungen, ihre Welt aus Schmerz zu betreten? Das hat er nicht verdient. Auch wenn er es selbst angeboten hat.
Wie er wohl reagieren wird, wenn sie ihm in der Schule begegnet. Wird er sie auf den Anruf ansprechen? Und – was fast noch wichtiger ist: Wie soll sie sich verhalten?
Aber im Moment hat sie sowieso ganz andere Probleme. Wie soll sie David und Cathy gegenübertreten?
Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass sie verschlafen hat. Die Chancen stehen also nicht schlecht, dass die beiden schon weg sind. An jedem anderen Tag hätten Cathy oder David dafür gesorgt, dass sie rechtzeitig aufsteht, aber sie sind mit Sicherheit genauso darauf bedacht, ihr aus dem Weg zu gehen.
Erschöpft und angeschlagen wie sie ist, rappelt sie sich mühsam vom Boden hoch, stellt das Telefon wieder auf den Nachttisch und schleicht zur Tür. Sie entriegelt sie so leise wie möglich, öffnet sie und lauscht vorsichtig.
Alles ist still.
Sie müssen schon gegangen sein. Das verschafft ihr wenigstens eine kleine Atempause. Sie muss sich erst darüber klar werden, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten soll. Soll sie sich für gestern Abend entschuldigen? Möglicherweise entschuldigt sich David auch bei ihr. Sie könnte auch einfach so tun, als wäre nichts passiert.
Toller Plan!
Willow macht die Tür leise wieder zu, obwohl sie jetzt ja weiß, dass niemand da ist, und geht zur Kommode, um ein paar frische Sachen herauszuholen. Zeit, den Tag zu beginnen.
Das Erste, was ihr in die Hände fällt, ist ein kurzärmliges T-Shirt, das sie wegen ihrer zerschnittenen Arme zurzeit nie trägt. Sie will es wieder zurücklegen, zögert dann aber doch.
Wenn sie nicht in die Schule geht, kann sie natürlich anziehen, was sie möchte.
Vielleicht sollte sie heute zu Hause bleiben. Sie könnte ein bisschen Französisch lernen oder endlich den Bulfinch zu Ende lesen und mit dem Essay anfangen. Wäre das nicht sogar viel vernünftiger, als durch die Schule zu schlafwandeln und nichts vom Unterricht mitzubekommen, so benommen, wie sie von den Ereignissen des gestrigen Abends noch ist? Außerdem würde sich damit zumindest für
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