Bis unter die Haut
sie tut es immer noch. Sie wünscht sich, sie könnte sich ihm gegenüber genauso fürsorglich und liebevoll verhalten, aber die Ereignisse von gestern sind einfach zu viel für sie gewesen.
»Nein, nein.« Guy schüttelt den Kopf. »Ich … es geht schon.«
»Gut.« Willow zieht ihr T-Shirt wieder herunter und macht die Hose zu.
»Was … Was hat dich dazu gebracht, es … zu tun?«, fragt er nach einer Weile stockend. Er wirkt verstört und sitzt genauso zusammengesackt in seinem Sessel wie sie auf der Couch.
»Ich habe mich mit meinem Bruder gestritten.« Willow weiß nicht, wie sie das, was passiert ist, sonst beschreiben soll.
»Was … Warum? Ich meine, worum ging es bei dem Streit?«, fragt er stotternd.
»Ach, es ging darum, wer mit dem Abwasch dran ist.« Sie ist zu müde, um ihm den wahren Grund zu nennen.
»Super«, sagt Guy. »Das ist echt super.« Er setzt sich aufrecht hin. »Ich meine, hey, erzähl mir ruhig weiter so einen Mist. Schließlich bin ich heute Morgen nur hierher gekommen, weil es mir so viel Spaß macht, mir deine bescheuerten Lügen anzuhören! Nein, wirklich, kein Problem. Überanstreng dich meinetwegen bloß nicht, mir eine vernünftige Antwort zu geben.«
Willow nickt. Sie hat damit gerechnet, dass er wütend wird. Natürlich ist sie nicht davon ausgegangen, dass er ihr die Geschichte mit dem Abwasch abkauft.
»Tut mir leid«, sagt er nach einer kurzen Pause. »Ich hätte nicht so wütend …«
»Doch«, unterbricht sie ihn. »Du sollst wütend sein. Ich benehme mich dir gegenüber unmöglich, und du bist so …«
Unglaublich lieb zu mir. Viel lieber als ich es jemals von irgendjemandem erwarten könnte.
Es berührt sie unsagbar, dass er sich extra auf den Weg zu ihr gemacht hat. Auf einmal verspürt sie nur noch Dankbarkeit und würde ihn gern fragen, warum er hier ist, scheut sich aber vor der Antwort. Vielleicht ist er gekommen, weil sie ihm fürchterliche Angst gemacht hat? Weil er sie für verrückt hält? Der Gedanke ist ihr unerträglich.
Ist er hier, weil er versprochen hat, es nicht ihrem Bruder zu erzählen, und sich deswegen verantwortlich für sie fühlt?
Oder ist er hier, weil ihm etwas an ihr liegt?
Seufzend fährt sie sich durch die Haare. Sie kann ihn nicht danach fragen. Schafft es nicht, ihm zu sagen, wie viel es ihr bedeutet, dass er sich so um sie sorgt. Aber sie ist es ihm wenigstens schuldig, ihm zu erzählen, was gestern Abend wirklich passiert ist.
»Wir haben uns gestritten, weil ich David gesagt habe, dass ich weiß, dass er mich seit dem Unfall hasst.« Willow sagt es ganz nüchtern, ohne Pathos. »Er hasst mich, weil ich unsere Eltern getötet habe.«
Sie wartet auf die Antwort, die darauf zwangsläufig kommen muss. Wartet darauf, dass Guy, wie alle anderen auch, sagt, dass es nichts weiter als ein tragischer Unfall war, dass sie sich nicht ans Steuer gesetzt hat, um ihre Eltern in den Tod zu fahren. Dass ihr Bruder sie mehr denn je liebt, jetzt, da sie nur noch einander haben. Sie hat diese Worthülsen schon unzählige Male zuvor gehört.
Aber Guy schweigt. Er sieht sie nur an.
»Ich kann mir wahrscheinlich noch nicht einmal annähernd vorstellen, wie hart das für dich sein muss«, sagt er schließlich. »Für euch beide«, fügt er nach einer kleinen Pause hinzu.
»Nein, kannst du nicht«, sagt Willow leise. Sie hätte wissen müssen, dass er sie nicht mit irgendeiner abgedroschenen Antwort abspeisen würde. »Aber … danke, dass du … dass du nicht so tust, als würde das alles nur in meinem Kopf stattfinden.«
»Schon okay.« Er zögert kurz. »Hör zu, vielleicht sollte ich das jetzt gar nicht sagen, nach dem, was du mir gerade erzählt hast. Ich weiß, dass ich nicht wirklich nachfühlen kann, was du durchmachst, und ich glaube dir, dass du glaubst, dein Bruder würde dich hassen. Wirklich. Ich würde niemals denken, dass du dir das alles nur einbildest. Es gibt bestimmt einiges, was ihr beide aufzuarbeiten habt, davon bin ich überzeugt.« Er beugt sich vor und sieht ihr direkt in die Augen. »Aber bist du dir wirklich sicher, dass du sein Verhalten nicht vielleicht, ich weiß nicht … dass du es nicht vielleicht falsch deutest? Ich muss die ganze Zeit an den David Randall denken, bei dem ich letztes Jahr im Seminar war. Der wäre niemals in der Lage, seine Schwester zu hassen. Da bin ich mir absolut sicher.«
»Ich glaube, ich kenne ihn ein bisschen besser als du«, entgegnet Willow stur.
»Ich versuche nicht, dir
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