Bis unter die Haut
heute die Frage erübrigen, wie sie reagieren soll, wenn sie Guy begegnet.
Prima, ein Problem weniger. Zu schade, dass sie nicht gleich ihr ganzes Leben schwänzen kann, statt nur die Schule. Sie wirft sich die Kleidungsstücke, die sie herausgesucht hat, über die Schulter, geht ins Badezimmer und dreht die Dusche an.
Während das Wasser über ihren Körper rinnt, lehnt sie sich an die Fliesen und beobachtet, wie sich ein hellroter Strudel im Abfluss bildet. Im Gegensatz zu dem tröstlichen Gefühl, dass ihr das Schneiden selbst vermittelt, ist ihr der Anblick ihres Bluts eher zuwider. Es besteht eine unglaubliche Diskrepanz zwischen dem, was sie tut, und dem, was sie fühlt, wenn sie die Folgen ihrer Selbstverstümmelung sieht. Aber es ist fast unmöglich, einen klaren Kopf zu behalten, wenn sie das Bedürfnis überkommt, sich zu ritzen.
Seufzend stellt sie das Wasser ab und greift nach einem Handtuch, dann zieht sie sich an und geht in die Küche hinunter.
Außer einer halb leeren Tüte Minibrezeln und ein paar Gläschen Babynahrung ist kaum etwas Essbares im Haus. Cathy fehlt meistens die Zeit, um einkaufen zu gehen, deswegen bestellen sie sich auch fast jeden Abend etwas nach Hause. Vielleicht sollte sie nachher ein paar Lebensmittel einkaufen gehen, sozusagen als eine Art Friedensangebot.
Genau. Als könnte das irgendetwas wiedergutmachen!
Willow nimmt sich eine Handvoll Brezeln und geht zum Tisch. An der Zuckerdose lehnt ein Umschlag, auf dem in Cathys Handschrift ihr Name steht.
Sie starrt ihn einen Moment lang an und traut sich nicht, ihn aufzumachen. Obwohl es eigentlich nichts gibt, womit Cathy die Dinge noch verschlimmern könnte. Sie fragt sich, ob der Brief voller Vorwürfe sein wird oder ein Versuch ist, alles wieder ins Lot zu bringen.
Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Liebe Willow,
ich dachte, es wäre vielleicht besser, dich heute ausschlafen zu lassen …
Du musst wissen, dass David und ich dich sehr lieb haben. Bitte denke nie wieder, dass er dir die Schuld dafür gibt, was passiert ist, oder dass er dir nicht vertrau t !
David meinte, dass deine Nerven so blank liegen, weil du ein paar Probleme in der Schule hast. Mach dir doch nicht so viele Sorgen deswegen. Du hast noch jede Menge Zeit, deine Noten zu verbessern. Wir finden jedenfalls beide, dass du dich angesichts der Umstände ganz unglaublich tapfer hältst. Nimm dir den Tag frei, wenn du magst. Vielleicht würde es dir ja guttun, ein bisschen in den Park zu gehen und zu malen.
In Liebe,
Cathy
Willow faltet den Zettel sorgfältig zusammen und schiebt ihn in die Hosentasche. Cathys Sorge rührt sie sehr, trotzdem deprimiert sie der Brief. Cathys Beteuerungen beweisen, dass sie einfach nicht versteht, worum es wirklich geht. Es ist fast dasselbe wie Davids Weigerung, über das zu sprechen, was passiert ist. Beide können einfach nicht im Mindesten nachvollziehen, was in ihr vorgeht.
Seufzend dreht sie sich um und will wieder nach oben in ihr Zimmer, als ihr Blick aus dem Fenster fällt und sie erstarrt innehält. Zwischen den jungen Müttern mit Kinderwagen, den gehetzt aussehenden Büroangestellten und den Joggern, die wie jeden Morgen das Bild vor dem Fenster bestimmen, sieht sie Guy auf der anderen Straßenseite stehen.
Im ersten Moment denkt sie noch, dass sie ihn mit jemandem verwechseln muss, aber er steht tatsächlich vor dem Park und beobachtet das Haus. Und die einzige Erklärung, die ihr dazu einfällt, ist die, dass er auf sie wartet.
So viel zum Thema ein Problem weniger, wenn ich die Schule schwänze.
Willow fragt sich nervös, was sie jetzt tun soll. Sie kann natürlich einfach in der Wohnung bleiben, aber was , wenn er klingelt?
Außerdem ist sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob sie ihm wirklich aus dem Weg gehen will.
Natürlich will ich … oder …?
Sie schämt sich furchtbar dafür, dass sie ihn angerufen hat. Aber außer der Scham ist da auch noch ein anderes Gefühl. Das Gefühl, auf eine bestimmte Art mit ihm verbunden zu sein – auch wenn die Umstände kaum romantisch zu nennen sind –, und das kann sie nicht so ohne Weiteres ignorieren.
Wäre es nicht irgendwie auch unhöflich, ihn einfach dort draußen stehen zu lassen?
Während sie noch weitergrübelt, greift sie nach ihrem Hausschlüssel und geht zur Tür.
Vor dem Haus bleibt sie stehen und sieht zu ihm hinüber. Er kommt langsam auf sie zugeschlendert. Tausende von Fragen wirbeln durch ihren Kopf. Sie will wissen,
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