Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
geklaut und dann mit laufendem Motor irgendwo stehenlassen. Der Besitzer von dem Gerät war genauso wenig ein Konzern oder eine Kette wie der Besitzer von dem Schweizer Laden, wo wir nachts die Surfbretter abmontierten. Faust machte sich Sorgen wegen der Grenzkontrolle, deshalb warfen wir die Bretter unterwegs weg, genau wie das Mofa, das in derselben Nacht ebenfalls in unserem Laster gelandet war. Das war auch beides keine richtige Umverteilung, schätze ich.
Ungefähr zu der Zeit begann die Feuerlöscher-Saison. Wo immer wir Brandgeruch in der Nase hatten oder einfach gute Laune, rissen wir die kleinen, roten Helfer von den Wänden und verwandelten unser soziales Umfeld in Schneelandschaften. Ich schäumte eine Hoteletage in Hannover ein, denn irgendwer - vielleicht sogar ich selbst? - hatte da »Feuer, Feuer!« gerufen. Kiki gestaltete das »Parkcafe« in München auf die gleiche Art in eine gigantische Grauzone um, während wir anderen an der Bar standen und an den Tresen pißten. Der ökonomische Gedanke dahinter: Die Zeit, die du zum Pinkelngehen brauchst, kannst du schon wieder zum Trinken nutzen. Keiner von uns erhielt eine Chance, sich dem Fraktionszwang in allen Lebenslagen zu entziehen. Wer sich ins Bett legte, kriegte bestenfalls sein Antlitz im Schlaf mit Edding-Stiften massakriert. Im schlimmsten Fall wurde auch er mit Löschschaum einschampuniert.
Es war einfach diese Stimmung von Klassenausflug: Weit genug weg sein, um auf niemand mehr zu hören. Und es war Sport in dem Sinne, daß wir das alles für uns selbst spielten. Wir hatten Tabellen und Ligen für den besten Trinker einer Tournee und den besten Kötzer, es gab einen Sportsfreund-Paß, einen Tour-Depp-Paß, alles mögliche. Fast in jedem Moment deiner Existenz konntest du irgendwo ein paar Punkte sammeln oder verlieren. Andy führte fast immer die Kotz-Liga an. Er konnte abgefüllt an einen Tresen gehen, bestellen, trinken, kotzen, neu bestellen - alles ohne jede Rührung. Breiti war ungekrönter Tour-Depp, aber auch in der Sportsfreund-Liga ziemlich weit oben. Dahinter stand ein super-humanistisches Weltbild, denn es sagte dir: Auch du taugst irgendwann zu irgendwas.
Natürlich gab es auch eine Sex-Liga, die sehr langsam in Schwung kam. Ein Punkt für Knutschen, zwei Punkte für Fummeln, drei Punkte für Ball-über-die-Linie-bringen. Man konnte aber bei jedem Mädchen nur einmal punkten, und nur in der ersten Nacht - alles weitere wurde als »Freundschaftsspiel« gewertet und war in dem Sinne Zeitverschwendung. Etwa zwei Jahre lang passierte auf dem Gebiet so wenig, daß sichjochen schon Gedanken über unsere sexuelle Orientierung machte. Dann stand eines Abends vor einem Konzert in München eine super Braut mit Fotomodellfigur vor ihm und sagte, sie gehöre zu Andi und stünde auf der Gästeliste. Das war der Startschuß, wenn ich mich so aus-drücken darf. Von da an war der sportliche Ehrgeiz bei allen geweckt. Der Wettkampf war eröffnet und kulminierte schon bald darauf, als wir ausgerechnet in Tübingen auf die erste (und bis heute einzige) Nymphomanin unseres sacht knospenden Intimlebens stießen. Sie wurde ein großer Punktelieferant für alle minus jochen und Campi, der zu dicht war und etwa gleichzeitig in den Wäschekorb schiß.
Die Nummer in München aber lief so: Wir waren Anfang April ’84 mit zwei Autos unterwegs, und eines mußte noch in der Nacht nach Zürich runter, zum nächsten Gig. Aber keiner hatte Lust, diese Disco in München schon zu verlassen. Also wurde entschieden, daß jeder, der in München etwas am Start hatte und in der Sex-Liga punkten konnte, dableiben durfte. Andi durfte dableiben, Breiti auch. Es war die Zeit, als er den Mädels immer etwas von Klassik vorschwafelte und damit ein Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, von wegen Punk mit Kultur. Er hieß bei uns deshalb nur noch »Die Zauberflöte«. Ein anderes Mal schmolz eine dahin, als sie sah, wie Breiti beim Anflirten mit dem Kopf gegen ein Stop-Schild knallte. Das war beinahe genial: Punkte in der Sex-Liga machen, indem man gleichzeitig was für seinen Tour-Depp-Paß tut.
Unterwegs zu sein wurde schwieriger, als Breiti und Campi im Frühjahr '84 in der Psychiatrischen Klinik Grafenberg landeten, Abteilung Arbeits- und Beschäftigungstherapie. Sie standen dort auf der Gästeliste des Bundesamts für Zivildienst, die für mehr als ein Jahr ziemlich verbindlich war, und warfen uns damit plötzlich in unsere Schulphase zurück. Wie in ihren
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