Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
sondern immer auch für sich. Er will es so, egal wer oder was dagegen spricht.
Auch bei seinen Unfällen hielt er durch. Bei einem Open Air in Winterthur blutete er einmal wie eine abgestochene Sau, als er sich an einer Häuserwand hochhangelte und die Fensterscheibe einer Pfarrerswohnung ein trat, um irgendwo reinzukommen. Das Set wurde trotzdem zuende gebracht -erst kam der Gig, dann konnte er sich immer noch nähen lassen. »Dat sind die Sänger«, sagt Faust manchmal, »die leiden gern. Weil Rock’n’Roll wat vom Hunger hat, vom Alkohol, von Trance und vom Nichts-Merken.«
Es war auch die Zeit, als unser Verbrauch an Speed und Kokain deutlich anstieg. Das Nichts-Merken ist ja wichtig, wenn du gegen die körperliche Erschöpfung angehen mußt. Du stehst vor dem zwanzigsten Gig auf der Tour und hättest gerne eine Pause, aber am Abend warten da wieder fünftausend Leute auf dich. Das ist etwas anderes, als wenn du für zweihundert Leute im Jugendzentrum von Recklinghausen-Marl spielst. Die Gigs dauerten schon lange nicht mehr nur fünfundvierzig Minuten, so wie am Anfang. Mit Zugaben und allem gingen sie meist über anderthalb, zwei Stunden. Das ging aber nur mit viel Energie, und wenn wir die mal nicht hatten, mußten wir sie uns eben irgendwo pumpen.
Ein, zwei Jahre später kamen wir aus dem gleichen Grund auf den Trick mit dem Sauerstoff, was legal und obendrein billiger war. Kurz vor der Zugabe setzten wir uns die Masken über die Nasen und zogen uns eine Extradosis Sauerstoff rein. Wir hatten größere Ventile auf unsere Behälter geschraubt, damit wir eine echte Ladung in die Lungen bekamen. Keine Ahnung, ob dadurch wirklich zusätzliche rote Blutkörperchen gebildet werden, aber es half. Die Luft, die einem einige Tausend Leute nach zwei Stunden lassen, kann man mit dem Messer schneiden, und auch ich fühlte mich ein bißchen besser, wenn ich danach noch mal rausging. Auch ich trug inzwischen ja mehr Verantwortung: Es gab mittlerweile drei Saiten auf meinem Bass, nicht mehr nur zwei.
Meine bevorzugte Musik war Punkrock, seit Campi die ersten Platten von The Damned und den Pistols aus England mitbrachte. Damit konnten wir jede Party sprengen; die meisten in Mettmann mochten das Zeug nicht. Und meine bevorzugte Droge im Zusammenhang mit Musik wurde Kaffee. Heißer Kaffee aus amerikanischen Kaffeemaschinen, wie man ihn in den Schnellrestaurants von Los Angeles die ganze Nacht durch bekommt, wenn man die Zeit totschlagen muß -nämlich die Stunden zwischen dem letzten Akkord in einem Club und dem ersten Bus, der einen von dort wieder zurückbringt.
Ich war gerade »Roadie« von ZKgeworden und mußte den Mini-Job unterbrechen, als ich durch das Schüler-Austausch-Programm für ein Jahr an die Wilson High School in Los Angeles kam. Tagsüber schlurfte ich an den Wachen vorbei in die Kurse, abends belegte ich den Intensivkurs »Punk«. Es war die große, frühe Zeit des Westcoast-Punk mit Bands wie Dead Kennedys, Black Flag und The Germs. Jeden dritten Abend gab es im Großraum der Stadt ein gutes Konzert mit diesen oder anderen, auch englischen Bands. Ich sah Sham 69 noch ein Jahr nach ihrem angeblich letzten Gig in London, als Campi und ich vor den Skins flüchten mußten. Weil ich aber wegen irgendeiner Bestimmung keinen Führerschein während meines USA-Aufenthalts machen durfte, hieß das für mich: Bus fahren, warten und Kaffee trinken.
Niemand fuhr mit öffentlichen Verkehrsmitteln in dieser Stadt; als ich das erste Mal jemand fragte, mit welcher Linie ich an den Strand Richtung Venice kommen würde, wurde ich fassungslos angeglotzt. Ein Konzert zu besuchen, war unter den Umständen eine Entscheidung für die nächsten zwölf Stunden. Aber das ging für mich in Ordnung: Wenn man in diesen Restaurants eine Kleinigkeit gegessen hatte, wurde einem Kaffee bis zum Abwinken umsonst nachgeschenkt.
Ich ging fast immer allein. Die Kids an der Wilson High School waren Surfer oder Soulfans oder spielten Baseball; für sie war Musik ein Mittel, um ein Mädchen weichzukriegen, damit man es flachlegen kann. Ihren deutschen Gast hielten sie wahrscheinlich für verrückt. Was die Noten anging, übernahmen die Koreaner und Chinesen an der Schule die Tabellenführung in den Klassen; nur der Deutsche kam mit Ringen unter den Augen in die Stunden und erzählte was von den Ramones. Really weird, right? So ähnlich ging es mir und Campi aber vorher und danach auch in Mettmann. So ähnlich ging es allen von uns.
Wir
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