Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
rasselt hinunter, der Sarg wird geöffnet - und vier unblutige Elektro-gitarren kommen zum Vorschein, die am gestrigen Abend noch im Vereinsheim Strand 08 sehr vernehmlich am Leben waren. Schmeiß einen Stein ins Wasser, und du weißt nicht, wohin er fällt. Es war die Idee der Toten Hosen, zu ihrer Anfang August 1983 begonnenen Tour die Betriebskosten zu senken: Ein Kindersarg ä vierhundert Mark ist billiger als vier aufwendige Gitarrenkoffer. Es war der Kunstgriff, diese Sparmaßnahme als Markenzeichen auszugeben. »Die mit dem Sarg sind da« wurde zum selbstgewählten Motto der Tour, und dabei hatten sich die fünf Bandmitglieder nicht mehr gedacht als die berühmten drei Chinesen mit dem Kontrabaß. Oder sagen wir: nicht viel mehr. Was dann folgte, war eine Kette von Schwierigkeiten, so dick wie jene auf dem Dach von Trinis Wagen. Es war, mit einem Wort, die große Kindersarggitarrenkofferkatastrophe.
An allen Grenzübergängen müssen die Hosen, die auch in der DDR, in Österreich und der Schweiz spielen, ihr Dachgepäck ablassen, müssen Fragen beantworten und werden
Die mit dem Sarg: Mittagspause am Straßenrand 1983
peinlich genau durchsucht. Die jedes Mal ergebnislose Prozedur bringt die Ansage der bürgerlichen Internationale aus Grenzbeamten aller Länder und Systeme deutlich rüber: So etwas macht man nicht, egal warum. Eine deutsche Mutter, die ihr Kind vor kurzem verloren hat, deponiert einen Brief; darin die Frage, ob man wüßte, wieviel Leid sie in ihrer Lage zu ertragen hat. Nur ein paar Biker heben mehrfach zustimmend den Daumen, als sie unterwegs von dem BMW mit seinem Dachgepäck überholt werden.
Und dann Timmendorf: Nachbarn verständigen die Polizei, weil sie im Kindersarg einen abgetriebenen Fötus vermuten. Es ist, wie die Beamten an jenem Morgen entdecken, die Ausgeburt ihrer eigenen Phantasie. Dennoch gibt man den Fremden ohne weitere Erklärung zu verstehen, daß sie sich binnen vierundzwanzig Stunden aus dem schönen Badeort zu schaffen haben. Ähnliche Wild-West-Behandlung durch verwirrte Sheriffs und Marshalls wird der Band später noch einige Male widerfahren - in Koblenz wird sie 1985 ohne Angabe von Gründen verhaftet, in Karlsruhe erhält sie ein Jahr später Auftrittsverbot.
Dabei hatte alles so nett begonnen. Der Auftritt im Clubhaus von Strand 08 war, wie so oft, in eine kleine Party übergegangen. Am Ende wurden die fünf Bandmitglieder von vier jungen Mädchen in dieses Wochenendhaus gelockt, das sie zusammen angemietet hatten. So fangen eigentlich die besseren Geschichten an. Dann kamen nacheinander der »Hinweis aus der Bevölkerung«, die Durchsuchung und der Platzverweis. Und ein knapp verhinderter Eklat: Fast hätte Breiti beim rückwärtigen Ausparken zur Heimfahrt noch einen Kinderwagen überrollt, wie um den wilden Verdächtigungen um die Band neue Nahrung zu geben.
»Und kommt bloß nicht wieder!«, ruft dem alten BMW ein Trupp der Timmendorfer Müllabfuhr noch hinterher. Daran haben sich die Hosen bis heute gehalten. Die Nummer mit dem Sarg aber blieb auch nicht mehr lange. Die ominösen fünf konnten bald das Kettengerassel nicht mehr ertragen, das jedem Griff nach den Instrumenten unweigerlich vorausging. Auch fand besonders Andi, daß der kleine Kasten »für das Geld saumäßig verarbeitet« war. Und damit war er in der Kindersarggitarrenkofferkatastrophe der einzige, der bis zum Ende immer sachlich blieb.
Flingern - Rio und zurück
Von meinem Fenster im vorderen Zimmer aus blicke ich, Breiti, auf drei Schlote in unmittelbarer Nachbarschaft. Zwei davon gehören zum Kohlekraftwerk am Flinger Broich; der dritte, etwas weiter links gelegene, ist sozusagen das Auspuffrohr der Müllverbrennungsanlage. Zusammen ergeben die beiden Anlagen nicht nur eine schöne Kulisse für die Stunde, wenn sich in Flingern sogar die Sonne verpißt. Sie sind für mich auch eine Versicherung, daß man hier in naher Zukunft weiter ungestört leben wird. Solange die Dreckspötte dort stehen, werden wir hier von zuziehenden Designerpaaren ohne Kinder und drastischeren Mieterhöhungen mit Sicherheit verschont bleiben. Solange wird mir eine Umgebung erhalten bleiben, zu der mir noch immer ein paar Ideen für neue Songs einfallen.
Es ist nicht das lupenreine Arbeiterviertel, dieser Straßenzug zwischen Dorotheen- und Ronsdorfer Straße und den Bahngleisen, das nicht. Eher eine Kreuzung aus allen möglichen Welten, die hier nebeneinander existieren. Wenn ich über die Straße gehe,
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