Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
ganze Horrorshow des Candomble, während wir gegrillte Fische und kalte baked beans aus der Dose aßen. Und ständig kamen Geräusche aus dem Wald, stiegen zur Terrasse auf und verschwanden wieder, wie Nebelschleier in einem deutschen Film mit Eddie Arendt, Karin Dor und Heinz Drache.
Es war unheimlich, großartig und schön. Es war Brasilien.
»Was macht ihr da eigentlich den ganzen Tag?« Micky kann nicht glauben, daß ich jetzt erst aus dem Studio zurück bin. Seit ich ihm erzählt habe, daß die neuen Stücke »im Sack« sind, kommt er nicht mehr ganz mit. Wozu noch groß rumfummeln, wenn die Aufnahmen fertig sind ? Wenn eine Karre repariert ist, setzt man sich rein und brettert ab. Die Hosen dagegen - sitzen da und spielen an den Armaturen. Wochenlang!
Nicht, daß ich Micky für einen Blödmann halte. Absolut nicht. Aber wie soll man einem, der es nie erlebt hat, das Abmischen erklären? Diese Tage und Wochen zu beschreiben, wo Schieberegler und Knöpfe die aufgenommenen Stücke in Gold oder in Scheiße verwandeln - ich schaffe es nicht. Das geht noch weiter, über die Marathon-Sitzungen mit der Band bis zu den Presseterminen, die jetzt, zumjahres-wechsel, unsere Arbeit an dem Album abschließen. Nichts anderes sind diese Gespräche: Letzter, aber nicht unwichtigster Teil der Veröffentlichung eines neuen Albums.
Mittwochs kommt Edgar Klüsener, ein alter Bekannter, der mal den Vorsitz im »Metal Hammer« hatte, dann folgen Interviews mit »Prinz«, »Tempo«, »Fachblatt Musikmagazin« und-und. Andrea hat eine ganze Batterie dieser Termine für die nächsten vierzehn Tage zusammengestellt, insgesamt zwanzig bis dreißig. Ich müßte allerdings erschossen werden, wenn ich jemals anfangen sollte, mich darüber zu beschweren.
Es ist doch völlig schizo, den genervten Popstar zu mimen, der eigentlich mit keinem Journalisten reden will. All diese abgebrochenen, blasierten Art-School-Absolventen aus Manchester und Hamburg haben eine Carol oder eine Andrea im Rücken, die vierzehn Stunden am Tag nichts anderes tut, als solche Gespräche anzubahnen (»Liam und Noel sind total wütend auf mich, aber ich hab dich jetzt für Freitag um halb vier im Interconti gebucht. Keine Fotografen bitte, wir schik-ken euch was!«). Warum also das Gezicke? Wenn ich in einer Band bin, möchte ich die Musik, die wir eingespielt haben, so gut es geht öffentlich zugänglich machen. Dabei helfen mir die Vertreter dieser Öffentlichkeit. Sie sind die Neuronen, die alle verfügbaren Informationen an das Nervenzentrum der Allgemeinheit weiterleiten. Wir benutzen sie für unsere Zwecke und sie benutzen uns, um ihre Leser/Hörer/Zuschauer zu bedienen und deren Summe möglichst zu steigern. Das ist der Deal, und das geht in Ordnung. Dafür kommen wir pünktlich zu den Interviews, spielen den Neuronen unsere neuen Stücke vor und sabbeln gern mit jedem, der sich interessiert.
Das heißt: Campi macht das, meistens, entweder allein oder mit Andi. Ich darf im Grunde sowieso nicht klagen, mich schützt dieser alte Pop-Mechanismus. Sie wollen die »Frontmen« haben, die Jagger, Strummer und Geldof, nicht den Rhythmusgitarristen oder den Drummer, dieses stumpfe, zuckende Tier. Und dafür sind wir - Wölli, ich und die anderen - eigentlich nur dankbar. Campino macht den Job sehr gut, er sabbelt sowieso ständig. Pausenlos, von früh bis spät, prasselt sein Sermon auf uns ein. Ihn mal für eine Stunde bei einem Schreiber abzustellen, ist die beste Entspannung für die Band.
Campino in der ZDF-Talkshow »Live«, zwischen Ira von Fürstenberg und Graf Lambsdorff. Campino im großen, persönlichen Penthouse-Interview (»Haben Sie immer ein Präservativ bei sich?«). Campinos Kommentar zu den Chaos-Tagen in Hannover, Campino am Werkstor des Stahlwerks in Rheinhausen, Campino im Streitgespräch mit Bundestrainer Berti Vogts. Die selbsternannten Vertreter der Öffentlichkeit hatten unseren Sänger zum außerparlamentarischen Abgeordneten der Jugend befördert. Seine Antworten waren der Kaffeesatz, aus dem sie den inneren Zustand der »Heutigen Generation« (auch »Null-Bock-Generation«, »Anspruchs-Generation« und »Generation X«) zu lesen meinten. Sie ließen einen davon zu sich durch, den Obergeneralrepräsentanten, um den Code des ganzen, fremden Sektors zu knak-ken - dabei hatten wir oft schon genug damit zu tun, uns fünf auf eine Linie zu einigen.
Halb spielte Campi mit und halb kämpfte er dagegen, indem er die Richtung des Stroms umkehrte.
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