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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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Karte von Europa eingeblendet, auf der eine Graphik Wolkenbewegungen abbildete. Das Wetter vor dreißig Jahren, dachte sie. Sie wollte schon ausschalten, da kam der Ton zurück.
    «… bestehe gegenwärtig keine Gefahr. Trotzdem raten die Behörden den Bewohnern, vorerst in den Häusern zu bleiben und die Fenster geschlossen zu halten.»
    Darauf folgte ein eingespielter Film.
    Zunächst erkannte sie es nicht. Aus der Luft, wahrscheinlich von einem Hubschrauber aus, zeigte die Kamera einen riesigen rot-weißen Schornstein, der aus einem Gebäudekomplex herausragte, dessen Dach geborsten war.
    Anna fielen die Bilder ein, die man zu den Jahrestagen im Fernsehen wiederholte. Ihre Mutter hatte, als sie noch lebte, jedes Mal schnell einen anderen Kanal eingeschaltet, ohne dass Anna sich hatte erklären können, warum.
    Was sie da sah, war die Heimat des toten Feuerwehrmajors. Rauch stieg über dem brennenden Reaktor von Tschernobyl auf.
     
     
    Laska kam gegen Mittag zurück. Er wirkte abgespannt, nervös.
    «Was nicht okay?», fragte sie.
    «Diese Warterei bei den Ärzten», antwortete er, «das Rumsitzen, das kann einen schon mürbemachen. Die haben einen Wartesaal mit einer Uhr, so einer großen Uhr, wie es sie früher auf Bahnhöfen gab, und die Zeit will einfach nicht vergehen. Steht einfach still.»
    Er stand im Wohnzimmer und sah sich um, als hätte er eine Veränderung erwartet. Dann zuckte er mit den Achseln. «Also, ich habe Hunger.»
    «Kühlschrank leer.»
    «Der Kühlschrank ist leer?»
    «Ja.»
    «Dann gehn wir etwas essen.»
    «Ist besser, wenn was im Kühlschrank ist.»
    «Du willst nicht essen gehen?» Er runzelte die Stirn. «Wir könnten einkaufen fahren und danach … danach mach ich uns was.»
    «Du kannst kochen?»
    «Na ja, so an das eine oder andere kann ich mich erinnern.»
    «Erinnern?»
    «Von früher.»
     
    «Fisch in Dose, Hackfleisch, Kapern, Brot, Zwiebeln», zählte Anna auf, als sie Laskas Einkaufsbeutel neugierig auspackte, «und – wie sagt ihr dazu?»
    «Petersilie.»
    «Natürlich, Petersilie», wiederholte sie. «Was wird das?»
    «Die Sahne hast du vergessen.»
    «Also?»
    «Königsberger Klopse», sagte Laska, «na ja, jetzt wohl eher Kaliningrader Klopse.»
    «Mit Fisch aus Dose?»
    «Anchovis. Ohne heißen sie Soßklopse. Die im Osten haben sie Kochklopse genannt oder manchmal auch Revanchisten-Klopse, weil das Königsberg ja in der Ostzone, also in der Sowjetzone lag und nun offiziell Kaliningad genannt werden musste.» Er lächelte. «Ich kann ganz gut Königsberge Klopse machen.»
    «Von früher?»
    «Ja», antwortete Laska. «Hat meine Mutter immer gemacht.»
    «Kommst du von dort?»
    Er schnitt Zwiebeln, rieb sich mit dem Arm die Tränen aus den Augen und wandte sich ihr zu.
    «Von wo?»
    «Wo Klopse herkommen.»
    Er lächelte wieder.
    Das ist es, dachte sie. Er will dorthin. An den Ort seiner Kindheit. Und da hat er nach jemandem gesucht, der ihn begleiten könnte. Die Sprache spricht. Aber warum hat er sich nicht eine Russin genommen? Vielleicht kannte er den Unterschied nicht. Oder ich sehe aus wie seine Jugendliebe, oder es war ihm am Ende egal.
    «Nein», antwortete er und hackte die Petersilie, «komme ich nicht. Ich bin hier geboren. In Berlin. Kurz nach dem Krieg. Aber meine Eltern kommen aus der Gegend. Südlich von der Klopsestadt, sozusagen, mein Vater war Landarzt.»
    «Willst du mal dorthin?»
    Laska zerbröselte das Weißbrot und mengte es unter das Hackfleisch. Er schüttelte den Kopf. «Nein. Und im Übrigen kann man nicht so einfach hin.»
    «Man muss nur Visum haben.»
    Laska begann, aus dem Hackfleischteig kleine runde Kugeln zu formen, und legte sie vor sich auf ein Holzbrett. «Ich bin aufgewachsen mit Königsberger Klopsen und mit alten Männern, die an Weihnachten zu uns kamen, unsere Klopse aßen, Lieder von der alten Heimat sangen und ansonsten schwiegen. Klopse, Lieder und Schweigen, das ist es, woran ich mich erinnere aus dieser Zeit, und davon habe ich nur die Klopse gemocht. Mag ich immer noch.» Er atmete durch. Seine lange Erklärung schien ihn selbst zu verwundern.
    «Jetzt du hast doch von dir erzählt», sagte sie.
    «Noch die Soße, und dann sind die Klopse fertig.»
    Merkwürdig, aber das Essen erinnerte auch Anna an die Kindheit. Lag es am Eichenholz-Esstisch in Laskas Wohnzimmer oder an den mit einem gelb-orangen Muster bedruckten Tapeten? So oder so, seit dem Tod ihrer Großmutter hatte es ihr nicht mehr so gut geschmeckt. Konnte das

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