Bis zum Ende der Welt
riesiger, überdachter Hof. Das Gebäude war offenbar viel größer, als sie angenommen hatte. Sie befand sich in einer Einkaufspassage. Von der Galerie führte eine Rolltreppe nach unten. Als sie sie betrat, lief der Motor surrend an, und sie fuhr in die erste Etage. Die nächste Rolltreppe entdeckte sie an der anderen Seite. Sie lief den langen Weg an dunklen Schaufenstern vorbei, die grauen Puppen wirkten im Zwielicht wie geisterhafte Beobachter ihrer Flucht. Endlich war sie im Erdgeschoss und erreichte die Eingangstüren. Sie waren verschlossen. Sie fand einen Nebeneingang, doch auch der ließ sich nicht öffnen. Nachdem sie mehrmals erfolglos an der Klinke gerüttelt hatte und gerade den kurzen Flur, der zum Nebeneingang führte, zurücklaufen wollte, um ihr Glück an einer anderen Tür zu versuchen, hörte sie Schritte. Sie hockte sich hin und spähte um die Ecke.
Er hatte seine Sonnenbrille abgenommen. Oben, auf der zweiten Ebene, stand Borys an der Brüstung und blickte suchend nach unten. Noch hatte er sie nicht entdeckt. Er bemerkte die laufende Rolltreppe, dann sah er hinab, nickte ganz leicht. Ohne Eile, als machte er einen Schaufensterbummel, ging er einmal ringsherum, bevor er die Rolltreppe betrat.
In dem kurzen, dunklen Flur hockte Anna sich vor die verschlossene Glastür. Draußen auf der Straße, unerreichbar fern, fuhr ab und zu, beinahe lautlos, ein Auto vorbei. Sie hörte die Schritte, untermalt vom Surren der Rolltreppen. Ab und zu blieb Borys stehen, als würde er lauschen. Wie weit war er noch entfernt? Wie viel Zeit würde ihr noch bleiben?
Sie hörte ein Piepen. Ein ganz leises Piepen hinter sich. Sie drehte sich um.
Mit offenem Mund glotzte ein Mann durch die Glastür. Vielleicht erkannte er sie nicht gleich, sie erkannte ihn sofort. Er sah immer noch ein wenig wie ein Busfahrer aus in seiner grau-blauen Uniform. Von seinem Gürtel baumelte der Elektroschocker, nach dem er jetzt mit einer Hand unsicher tastete. Sie legte einen Finger an die Lippen und deutete auf die Tür.
«Was haben Sie dadrinnen gemacht?», fragte der Wachmann, als sie im Wagen saßen.
Sie drehte sich um und sah durch das Heckfenster zurück zum Eingang des Einkaufszentrums. Niemand kam heraus, niemand folgte ihnen, als sie losfuhren. «Das ist lange Geschichte», antwortete sie.
«Na toll», sagte er, «ich kann meinen Job verlieren!»
«Jeder hat einmal einen großen Tag.»
Dunkel und wie schon seit Jahrzehnten verlassen stand das Haus am Ende der Straße. Kein Licht, kein davor abgestelltes Auto, nichts deutete darauf hin, dass es noch bewohnt war, sodass sie einen Moment lang Angst hatte, es könnte inzwischen tatsächlich für alle Zeit verlassen worden sein.
Sie setzte sich auf die Treppe vor der Tür. Obwohl sie fror, nickte sie zwischendurch immer wieder ein. Erst als es bereits dämmerte, klingelte sie.
Laska stand in der offenen Tür, sagte nichts, sah sie nur an. Er kam ihr älter vor, müder.
«Ich habe nachgedacht», sagte sie.
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5
Das Erste, woran ich mich erinnere, ist die Straße. Ich sehe sie vor mir: Staubig und breit, wahrscheinlich viel breiter, als sie in Wirklichkeit war, wächst sie im Licht eines Sommernachmittags aus dem Dunst der Stadt und der Vergangenheit auf mich zu. Links und rechts ist sie gesäumt von niedrigen Gebäuden mit flachen, wellblechgedeckten Dächern – dem Farbengroßhandel, dem Baustofflager, dem Büromaschinenvertrieb und einem langgezogenen, dunklen Schuppen mit einer Rampe und einem breiten Vordach an einer Seite: Getränkemarkt und Fernfahrerspelunke zugleich. In meiner Erinnerung liegen diese Häuser verlassen da, die dort arbeiten, sind schon lange nach Hause gegangen oder noch gar nicht erschienen. Ich stehe mitten auf der Straße, als der Asphalt unter meinen Füßen zu beben beginnt und ich ein noch fernes, aber sich näherndes Brummen wahrnehme. Aus dem Dunst lösen sich die Silhouetten der Lkws, Zwanzigtonner, die mit einem dumpfen Dröhnen auf mich zurasen. Ich höre ihre Motoren, das Orgeln ihrer Signalhörner, das rhythmische Zischen der Pressluftbremsen. Kurz bevor sie mich erreichen, kurz bevor sie mich überrollen können, machen sie einen kleinen Schwenk, die Fahrer winken, rufen mir zu: «Hey, Yuri! Hey, Yuri! Wie geht’s?», und fahren an mir vorbei. Ich aber bleibe stehen und warte darauf, dass sich der Staub legt und ich am flimmernden Horizont endlich die Gestalt meines Vaters erkenne.
Wir wohnten am Ende
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