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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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dahin?»
    «Schauen wir uns um.»
    Ich dachte nach. «Hunde?»
    Er hielt mir das Diensttelefon hin. «Willst du unsere
tenenta
fragen, ob wir ihre geliebten Hunde bekommen?» Cabral grinste und richtete die Rückseite des Telefons, wo sich das Objektiv der eingebauten Kamera befand, auf den Finger. «Besorg dir besser eine Tüte», sagte er zu mir.
    «Zu Befehl, Chef.»
    Cabral ist schon beinahe dreißig Jahre im Polizeidienst bei der Guarda Nacional Republicana, länger als ich, aber genauso wie ich hatte er an irgendeiner Stelle den Aufstieg zum Offizier verpasst. Seit einem Jahr haben wir in der Kreisstadt, im Regionalkommando, als Tenente eine junge Frau, angeblich Jahrgangsbeste der Akademie, noch nicht einmal dreißig und eine Hundenärrin, die die ihr ebenfalls unterstellte Kläffer-Staffel hegt und pflegt, als gehörten die Tiere zu einer vom Aussterben bedrohten Art. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie die empfindlichen Nasen der Spürhunde wegen eines schon länger im Wasser treibenden Fingers ruinieren würde.
    «Könnte ein Blutsbruder sein», sagte Cabral.
    «Was meinst du damit?»
    Er deutete auf den Finger. «Dunkle Haut. Wie ich. Ein entlaufener Sklave. Ein durchgebrannter Neger.»
    Cabral kommt aus Angola. Er behauptet, Sohn einer afrikanischen Hausangestellten und eines portugiesischen Bankrotteurs zu sein. Vielleicht stimmt das sogar. Zumindest teilweise. Wie ich hat er sich eine Biographie zurechtgelegt, mit der es sich einigermaßen angenehm leben lässt.
    «Vielleicht war er nur zu lange in der Sonne», fügte er noch hinzu.
    «Woher weißt du, dass es ein Männerfinger ist?»
    «Oder eben der einer Frau. Zu lange in der Sonne gewesen, Herzanfall, Ohnmacht, dann kam die Flut und nahm sie mit sich.»
    Cabral sah zum einen Ende des Strandes, wo die Brandung gegen die scharfkantigen Klippen schlug, und nickte. Er wandte sich dem Hotelangestellten zu. «Haben Sie eine Tüte?»
    Der Angestellte lief zu einem kleinen Wägelchen, mit dem er seine Reinigungsgerätschaften zum Strand befördert, und kam mit einer gelben Mülltüte zurück.
    «Etwas groß», sagte ich, «aber es wird gehen.» Ich zog mir Gummihandschuhe über und steckte den Finger in die Tüte.
    Der Hotelangestellte beobachtete das Ganze mit einem Ausdruck unterdrückten Ekels.
    «Sind Sie immer der Erste am Strand?», fragte ich. «Oder gibt es Gäste, die morgens schon vor Ihnen hier sind?»
    Er dachte einige Sekunden lang nach, bevor er sich räusperte. «Ja, gibt es.»
    Cabral und ich traten mit ihm an den Rand der Absperrung, und ich sagte leise: «Wir gehen jetzt zu Ihrem Karren mit dem Krimskrams, und Sie erzählen uns, wer von den anderen hier üblicherweise vor Ihnen da ist, aber Sie sehen nicht hin, verstanden?»
    Die Frauen und Männer in ihren Monogramm-Bademänteln schauten uns an: einige aus den Augenwinkeln, andere neugierig, ein paar Frauen im Alter zwischen vierzig und siebzig provokant. Die meisten Männer schienen zu überlegen, bei wem sie sich, worüber auch immer, beschweren könnten.
    «Der Dicke vorne rechts kommt manchmal morgens hierher, spaziert zehn Meter den Strand entlang und geht dann schnell wieder zurück», berichtete der Hotelangestellte. «Die Frau mit den getönten, hochgesteckten Haaren da hinten, etwas abseits, die ist jeden Morgen schon vor mir da. Sie joggt den Strand entlang – in ihrem Alter, verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich finde, es sieht komisch aus, wenn sie mit so einer Frisur und diesen Trainingssachen den Strand entlangrennt, als wäre sie noch ein junges Mädchen, aber na ja, so sind sie halt alle hier.»
    «Wie sind sie alle hier?»
    «Können nicht alt werden. Denken vielleicht, hier ist ein Jungbrunnen oder so was. Aber sie werden natürlich trotzdem alt, und hier ist nur das Meer.»
    «Meine Damen und Herren», rief erst Cabral auf Englisch, dann ich auf Deutsch den Schaulustigen zu, «ist jemandem von Ihnen heute Morgen oder in den letzten Tagen hier am Strand etwas Ungewöhnliches aufgefallen?»
    Niemand rührte sich.
    Ich musterte die Frau mit den getönten, hochgesteckten Haaren, die keinen weißen Monogramm-Bademantel trug, sondern eine graue Jogginghose und ein leuchtend rosafarbenes Top. Ihre Haut war tiefbraun, ihr Bauch flach und faltig. Sie sah nicht schlecht aus für ihr Alter, irgendetwas jenseits der fünfzig. Im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen mied sie meinen Blick. Sie tat so, als würde sie das alles nicht interessieren, als wäre sie nur zufällig

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