Bis zum Ende der Welt
würde. Anna sah zur Terrasse, dann zum Flur, der zum Aufzug führte. Borys war nicht zu sehen. Sie entschied sich für die Terrasse. Sie musste den gesamten Raum durchqueren, um dorthin zu gelangen, aber das war immer noch besser, als an dem Zimmer vorbeizugehen, in dem sie ihre Aufpasser vermutete. Als sie schon beinahe an der Glastür war, hörte sie von einem Sofa her einen unterdrückten Schrei und gleich darauf ein leises Wispern: «Anna, Anna!» Sie drehte sich um.
Der Fette kniete hinter Jelena, hatte ihren Rock hochgeschoben. Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht zu einer Grimasse der Anstrengung und Pein verzogen. Jelena kniete auf dem Sofa, Arme und Kopf hingen wie bei einer verwahrlosten Puppe über die Rückenlehne, und sie fluchte auf Russisch vor sich hin: «Du Fettsack, du hässliche Kröte, mach schon, mehr bringst du nicht? Streng dich gefälligst an, du Scheißkerl!» Aber als Anna an ihr vorbeischlich, hob sie kurz den Kopf, flüsterte, ohne dass der Mann, der sich an ihr zu schaffen machte, es bemerkte: «Nein, geh nicht!», und sah Anna an wie eine Ertrinkende, kurz bevor das Meer sie für immer zu sich nimmt. «Wo willst du denn hin?», rief sie. «Wohin willst du denn?»
Draußen strich ein warmer Wind über die leere Dachterrasse. Die Wolkendecke war aufgerissen, und am Himmel blinkten unruhig die Sterne. Sie drückte die Klinke: Die Tür zur Treppe im Glaszylinder war nicht verschlossen.
Leise lief sie die Stufen hinunter. Es roch nach Plastik, nach heißem Staub und Reinigungsmittel. Sie betrat einen großen Raum mit unzähligen, hintereinander aufgereihten Tischen, auf denen Computermonitore standen. Zahlen flirrten über die Bildschirme, zitternde Zeilen bauten sich eine nach der anderen auf, stockten manchmal, als müsste ein verborgenes Elektronengehirn innehalten, sich in die aktuelle Operation vertiefen und dann entscheiden, wie es weiterging.
Schnell huschte sie zwischen den Reihen hindurch. Sie dachte, dass sie allein wäre, doch sie irrte sich. Da war das Klappern einer Tastatur.
Am letzten Tisch vor dem Ausgang saß ein Mann. Eine Hand an der Maus, die andere auf der Tastatur, starrte er auf den Bildschirm. Er hatte sie nicht bemerkt, er trug Kopfhörer. Neben Tastatur und Bildschirm standen eine offene Flasche Rotwein, ein halbvolles Glas, ein Aschenbecher. Der Mann rauchte, und Anna sah, wie die Klimaanlage senkrecht über ihm den Qualm aufsaugte. War er auf der Party gewesen? Sie glaubte, sich an ihn zu erinnern, aber sie war sich nicht sicher. Vielleicht interessierte er sich nicht für Mädchen.
Im ersten Moment hatte sie geglaubt, der Mann würde noch arbeiten: wichtige Transaktionen, die nicht warten konnten, Termingeschäfte, globale Spekulationen, Gewinnmitnahmen in der Nacht. Doch er arbeitete nicht.
Als Anna hinter ihm stand, schlich er, sein Sturmgewehr im Anschlag, durch die Kanalisation einer zerstörten Stadt. Von ein paar wenigen verbliebenen Lampen kroch trübes Licht in die dunklen Gänge, von deren Wänden das verstrahlte Abwasser grünlich widerschien. Manchmal blieb er stehen. Ein schwacher Luftzug strich durch die Betonröhren. Er würde noch tiefer in die Gänge und Schächte vordringen müssen, wollte er finden, was er suchte, tiefer in das Reich der Ghuls, der von Radioaktivität irre gewordenen Zombies, die nur ein Verlangen hatten: ihn und seinesgleichen zu fressen. Vorsichtig, aufs äußerste gespannt, lugte er um die nächste Ecke. Zu spät. Schon ließen sich zwei von der Decke fallen, versuchte einer von ihnen, ihm die Halsschlagader durchzubeißen. Er schoss beinahe das ganze Magazin leer, bevor er die beiden erledigt hatte. «Hier, fresst Blei, fresst Blei!», rief er. Und als die Guhls dann leblos in der braunen Brühe trieben, die totenkopfgleichen Gesichter zu einer grausigen Fratze verzogen, rauchte er eine und trank einen Schluck Rotwein, bevor er nachlud und seinen Weg in die Dunkelheit fortsetzte.
Vor dem Aufzug zögerte Anna, entschied sich für das Treppenhaus. Sie zog die Schuhe aus, rannte die Stufen hinab, zählte die Etagen. Im zweiten Stock ging es nicht weiter. Sie stand vor einer verschlossenen Glastür, die mit einem kleinen grünen Kasten gesichert war: ALARMGESICHERT ! NUR IM NOTFALL ÖFFNEN .
Sie drehte sich um, lief einen Flur entlang und gelangte auf eine Galerie. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, nur schemenhaft erkannte sie im schwachen Licht der Notlampen die Ausmaße des Raumes. Vor ihr lag ein
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