Bis zum Ende der Welt
der Straße. Wir, meine Mutter, mein Vater, meine beiden Schwestern und ich, wohnten über dem Büro der Spedition, weil einer der Fahrer, ein ehemaliger Kollege meines Vaters, ein gutes Wort beim Spediteur eingelegt hatte, der sowieso nicht wusste, was er mit den Räumen über seinem verrauchten Büro sonst anfangen sollte. Für mich war die Spedition die größte der Welt. Die Lkws fuhren in ganz Europa herum, und ihre Fahrer erzählten mir von fremden Ländern und Städten, aus denen sie zurückkehrten, erzählten von den Abenteuern, die sie dort erlebt hatten.
Es muss das Jahr 1974 gewesen sein. Ich bin drei Jahre alt. Beim Grand Prix Eurovision de la Chanson hat Portugal den letzten Platz belegt. In einigen Wochen werden die Deutschen Fußballweltmeister sein. Portugal hat sich nicht für die WM qualifiziert. Deswegen sind wir Portugiesen in Deutschland jetzt alle Deutsche.
Der Lärm und der Staub haben sich gelegt, ich stehe auf der Straße meiner Kindheit und sehe zum Horizont. Endlich höre ich ein leises Tuckern, ein auf seine ganz eigene, typisch deutsche Art zuverlässiges Zweittakt-Knattern, und dann sehe ich meinen Vater, sehe ihn auf seinem Zündapp Mokick näher kommen, er kommt von der Tagschicht in der Kleisterfabrik, er winkt mir zu.
Ich blinzelte. Es war der 7 . März im Jahr des Herrn 2011 , ein Montag, der erste Tag jener Woche, die mein Leben für immer verändern sollte, und ich, Yuri Fernao Gouveia, stand zusammen mit meinem Kollegen Ernesto Cabral am Strand. Wir betrachteten einen Finger, einen einzelnen, grauen, aufgedunsenen Finger, den die mitleidslose Dünung des Atlantiks dummerweise in unseren Zuständigkeitsbereich geschwemmt hatte.
Es war erst neun Uhr morgens, doch am Strand hatten sich schon zahlreiche Touristen eingefunden, Männer und Frauen mittleren Alters, das heißt, sie waren in meinem Alter oder darüber. Einige von ihnen trugen weiße Bademäntel mit einem Monogramm auf der Brust – dem Logo eines Wellness-Resorts, dessen Bungalows beinahe bis an die Kante der roten Steilküste hinter dem schmalen Strand heranreichten. Sie standen hinter dem Absperrband, und manche hielten Handys oder kleine Digitalkameras bereit, unschlüssig, ob sie das «Ereignis» nun fotografieren sollten oder nicht. Vielleicht waren sie es auch deshalb, weil sie aus der Entfernung nicht genau erkennen konnten, worauf wir, Cabral und ich, da schauten.
Der Finger lag einfach so im Sand. Gefunden hatte ihn der Hotelangestellte, der jeden Morgen gegen sechs den Privatstrand säuberte und jetzt neben uns stand.
«Haben Sie ihn angefasst?», fragte ich.
Der Angestellte sah entsetzt auf. «Nein! Natürlich nicht.»
Cabral hockte sich hin, neigte seinen Kopf zur Seite und betrachtete den Finger mit der Ruhe eines Schmetterlingssammlers. «Haben Sie den Finger dort abgelegt?»
Der Angestellte riss die Augen noch weiter auf. «Aber – sind Sie … warum hätte ich das denn tun sollen?»
«Keine Ahnung», entgegnete Cabral, «sagen Sie’s mir.»
«Ich habe ihn nicht dahin gelegt!» Der Angestellte schrie jetzt fast. Die Hotelgäste hinter der Absperrung steckten die Köpfe zusammen. «Ich habe nichts damit zu tun!»
Cabral stand auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Ist ja gut. Wir müssen das fragen.» Er sah mich an. «Was meinst du?»
Mir fiel eigentlich nichts dazu ein. «Das ist nichts für uns», sagte ich, «das ist was für die PJ .»
Im Grunde genommen hatten Cabral und ich von Anfang an denselben Gedanken: den Finger möglichst schnell an die Polícia Judiciária loszuwerden, die Kriminalpolizei in Portimao mit ihren smarten Agenten und forensischen Spezialinstrumenten, ihren Supercomputern und Überwachungseinrichtungen, ihren untrüglichen chemisch-physikalischen Analysen und juristisch einwandfreien, aber psychologisch raffinierten Verhörmethoden.
Cabral kratzte sich im Nacken. «Das wird nicht einfach», murmelte er. Dann holte er sein Telefon heraus, hielt es sich ans Ohr und begann, den Strand auf und ab zu gehen. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, doch an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass wir den Finger noch eine Weile behalten würden. Er kam zurück, steckte das Telefon wieder ein. «Wie ich gesagt habe. Keine Leiche, also auch kein Mord. Wir sollen Fotos machen und den Finger mitnehmen.»
«Und dann?»
«Sie schicken jemanden, der ihn abholt.»
Ich starrte den Finger an. «Wann?»
«Wenn sie Zeit haben.»
«Und bis
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