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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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kam wie ein Luftzug. Sie saß in dem stillen, fremden Raum und wartete darauf, dass es vorüberging, hinfortgetragen wurde. Sie bewegte sich nicht.
    Dann war es vorbei.
    Sie stand auf und griff nach dem dicksten Buch, das sie gerade noch, ohne auf eine Leiter steigen zu müssen, erreichen konnte, und schlug es an irgendeiner Stelle auf:
    Die Welt als Ganzes
    Kapitel 4 , Kosmologie, Abschnitt b)
    Der Horizont
    «Wenn die Welt ein endliches Alter hat und das Licht eine endliche Geschwindigkeit, so kann es Teile der Welt geben, deren Licht uns während des bisherigen Weltalters noch nicht erreicht hat. Diese Teile der Welt sind also für uns prinzipiell nicht beobachtbar, sie liegen außerhalb unseres Horizonts.»

[zur Inhaltsübersicht]
    8
    Wie ein Geist schlich die Gestalt des Bruders meines Vaters, meines Paten und Onkels Marcelo, durch unser Leben in Deutschland. Es gab die Fotos, auf denen er bei meiner Taufe zu sehen war – darauf hält er mich, lacht sein gewinnendes Lächeln, mein gewinnendes Lächeln verdanke ich angeblich ihm.
    Vergebens hatte mein Vater vor meiner Taufe versucht, ihn dazu zu bewegen, zu uns nach Deutschland zu kommen. Marcelo hörte nicht auf ihn. Ich glaube, weniger aus Trotz denn aus Trägheit – er konnte sich wohl nicht entschließen, die vertraute Umgebung, die kleine verschlafene Stadt, in der er aufgewachsen war, zu verlassen. So verpasste er den richtigen Moment. Die Wehrpflicht wurde von achtzehn Monaten auf vier Jahre heraufgesetzt, und nun mochte er sich vielleicht gewünscht haben, er hätte auf seinen ältesten Bruder gehört. Deutschland war nicht so weit entfernt wie Afrika. Aber inzwischen war es leichter, nach Afrika zu gelangen als nach Deutschland.
    Seine Einheit operierte im Osten Angolas, einer Gegend, die sie «Terras do Fim do Mundo» nannten, die Länder am Ende der Welt. Viele Jahre später fand ich unter den Dingen meines Vaters ein Notizbuch meines Onkels. Vielleicht hatte Marcelo vorgehabt, eine Art Tagebuch zu führen, denn auf der ersten Seite gibt es unter einem Datum diesen Eintrag: «Sind von Luanda Richtung Landesinnere aufgebrochen. Francisco hat den ganzen Tag gekotzt. Stimmung ist gut.» Er muss sein Vorhaben recht früh aufgegeben haben, denn dies blieb der einzige Eintrag. Zwischen den leeren Seiten fand ich Fotos. Sie waren nicht eingeklebt, sondern einfach nur hineingelegt worden, als hätte Marcelo im Sinn gehabt, sein Tagebuch nachträglich zu vervollständigen.
    Ich hatte mir die Kameraden meines Onkels immer als knallharte, schwerbewaffnete Kerle mit kahlgeschorenen Schädeln und dunklen Sonnenbrillen vorgestellt, doch die Soldaten auf den Fotos waren ganz gewöhnliche junge Männer mit normal langen Haaren und einem normalen Gesichtsausdruck. Auf manchen Fotos lächelten sie (vor allem mein Onkel), auf manchen rauchten sie oder stützten sich mit erschöpfter, aber nicht unbedingt unglücklicher Miene auf die Läufe ihrer Gewehre. Es gab Bilder, auf denen sie vor einem Lkw auf dem Boden lagen und dösten oder etwas aßen, Bilder, auf denen sie im Schatten weit ausladender Bäume in einem Fluss badeten. Auf den meisten Fotos jedoch durchstreiften sie eine leere Savannenlandschaft, die bis an den Horizont zu reichen schien – hüfthohes Gras, in dem irgendwo das Ende von allem in Gestalt einer Tellermine auf meinen Onkel wartete.
    Auch wenn ich davon zunächst nichts mitbekam: Der Tod seines Bruders veränderte meinen Vater. Er hatte immer an die Zukunft und sein Glück geglaubt. Er war der «Millionen-Mann», es konnte nur aufwärtsgehen, dachte er, der Sonne entgegen. Deshalb hatte er mir, obwohl er kein Kommunist war, den zweiten Vornamen Yuri gegeben, nach Juri Gagarin, dem ersten Menschen im All.
    Der Tod meines Onkels, dieses ferne, völlig unverständliche Verschwinden eines lachenden Menschen aus der Welt (niemand aus der Familie hatte ihn noch einmal gesehen, niemand hatte ihm die Lider zugedrückt und ein leises Gebet gesprochen, niemand hatte an seinem Totenbett die letzte Wache bis zum Morgengrauen gehalten, weil es nichts mehr gegeben hatte, was man von ihm noch hätte ansehen können, nur
Überreste
), diese endgültige Abwesenheit führte meinem Vater zum ersten Mal vor Augen, dass die Dinge nicht immer gut ausgehen mussten. Dass es Ereignisse gab, die sich nicht rückgängig machen ließen, und Dämonen, die man nicht mehr loswerden konnte. Dass eine Geschichte nicht immer ein Happy End hatte. Dass am Ende des Weges vielleicht

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