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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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nichts auf einen wartete.
     
    Seit zehn Jahren arbeitete er nun schon in der Fabrik, in der der Kleister hergestellt wurde, mit dem die Deutschen in ihren Eigenheimen ihre hässlichen Tapeten an die Wände klebten.
    Es war der 6 . April 1974 , als meine Eltern mit einer gewissen Ergriffenheit der Stimme Paulo de Carvalhos lauschten. Paulo de Carvalho sang beim Grand Prix de la Chanson für Portugal. Meine Mutter war davon überzeugt, dass er den Wettbewerb gewinnen würde. Er sang von der vergangenen Liebe:
E depois do adeus
– Und nach dem Abschied. Er wurde Letzter, zusammen mit den Deutschen Cindy und Bert.
    Drei Wochen nach diesem Desaster erklang in Portugal Carvalhos Lied ein weiteres Mal im Radio: Für eine Gruppe junger, durch den Krieg am Ende der Welt zornig gewordener Männer war es das vereinbarte Signal, sich gegen ihre Befehlshaber zu erheben. So begann die Befreiung Europas an seinem äußersten Rand mit einer portugiesischen Schnulze. Für meinen Onkel begann sie zu spät.
    Von da an dachten meine Eltern an Heimkehr. Möglich, dass meine Mutter davon zu reden anfing, vielleicht auch mein Vater. Die Nelkenrevolution hatte gesiegt, was wollte man mehr, vor allem, was wollte man noch in Deutschland? Nun durfte man daheim so oft und so laut und so viel auf die Demokratie trinken, wie man Lust dazu hatte. In Deutschland tranken nie welche mit meinem Vater, außer ab und an die Fernfahrer in der Spelunke neben dem Getränkemarkt, die ihn regelmäßig unter den Tisch soffen und dann auch noch dafür bezahlen ließen, während im Hintergrund Cindy und Bert trällerten: «Immer wieder sonntags / kommt die Erinnerung …»
     
    Ich erinnere mich an den Wagen, einen ausgemusterten Personentransporter des Katastrophenschutzes, einen übergroßen Ford-Transit-Kleinbus, den der Spediteur für Kurierfahrten benutzt hatte. Ich erinnere mich, dass es zwei Tage dauerte, bis meine Eltern unseren gesamten Besitz darin verstaut hatten, auf so ausgeklügelte Weise, dass nicht das kleinste Eckchen Raum verschwendet wurde. Ich erinnere mich, dass für mich auf der zweiten Rückbank ein Platz frei gelassen worden war, der so klein war, dass ich kaum die Beine ausstrecken und gerade sitzen konnte. Ich war eingekeilt zwischen Schränken, Kisten, dem Kühlschrank, der Abflussschlauch der Waschmaschine baumelte vor meiner Nase. Alles war so zugebaut, dass ich mir wie in einer Höhle vorkam. Ich konnte nicht nach draußen sehen und sah auch niemanden von meiner Familie. Mein Vater und meine Mutter saßen mit einer meiner beiden Schwestern vorn, meine andere Schwester hatte ein ähnliches Kabuff wie ich zugeteilt bekommen, irgendwo im Bus. Ich konnte sie nicht sehen, sie konnte mich nicht sehen, wir konnten nicht nach draußen sehen. Ab und zu gaben wir Klopfzeichen.
    Tief im Inneren des Transits aber war, umgeben von einer Mauer aus Umzugskartons und geschützt durch die Federbettwäsche meiner Eltern, das immer noch chromblitzende Zündapp Mokick verborgen. Abgesehen von dem Hausrat und den bescheidenen Ersparnissen, war es das einzige Bedeutsame, das mein Vater aus der Fremde nach Hause mitbrachte.
     
    Später, als wir wieder in dem Dorf wohnten, aus dem meine Eltern stammten und wo sie sich von den bescheidenen Ersparnissen ein bescheidenes Haus kauften, fuhr mein Vater an den Wochenenden mit dem Mokick durch die Straßen und erzählte jedem die abenteuerliche Geschichte, wie es in seinen Besitz gekommen war, in immer neuen Variationen. Er merkte gar nicht, dass ihm immer weniger Leute zuhörten. Man hatte jetzt Autos, die mit Ratenkrediten abbezahlt wurden. Niemand war mit einem alten Mokick zu begeistern.
    Eine Zeitlang hatte er zudem die Angewohnheit, herablassend von seinen Landsleuten zu sprechen. «So eine Schlamperei wäre in Deutschland nicht passiert», sagte er etwa, oder: «In Deutschland würden sie dir Feuer unterm Hintern machen», oder: «In Deutschland, da wird nicht gejammert, sondern gearbeitet.»
    Eines Tages, als wir an der Tankstelle hielten, mein Vater auf seinem Mokick und ich hintendrauf, und der Tankwartsgehilfe, ein pickeliger Zwanzigjähriger, dem eine schmutzige Mütze schief auf den fettigen Haaren klebte, den Benzinstutzen aus dem Tank zog und den Preis nannte, warf mein Vater einen Blick in den Tank und hielt dem Gehilfen einen Geldschein hin, und sobald er das Wechselgeld bekommen hatte, gab er eine kleine Münze als Trinkgeld und sagte: «Fürs nächste Mal: In Deutschland machen sie

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