Bis zum Ende der Welt
einem den Tank voll, wenn man sagt: ‹Einmal volltanken, bitte› – und nicht fast voll oder ein bisschen voll.» Der pickelige Gehilfe glotzte ihn an und gab ihm die Münze wieder, drückte sie ihm regelrecht in die Hand. «Dann geh doch zurück, wenn’s dir hier nicht gefällt. Na los, fahrt doch nach Deutschland auf eurem ollen Moped, mal sehn, wie weit ihr mit dem Schrotthaufen kommt.»
An jenem Abend wünschte ich mir, wieder in Deutschland zu sein. Man hatte mich dort gehänselt, hatte mich Knoblauchfresser genannt. War ich auf dem Schulhof in eine Prügelei verwickelt gewesen, galt immer ich als der Schuldige. Ich war kein richtiger Deutscher. Ich war das Gastarbeiterkind. Aber hier, an dem Ort, den meine Eltern Zuhause nannten, war ich gar nichts. Als ich in jener Nacht in meinem Bett lag und vor Scham nicht einschlafen konnte (während meine zwei Schwestern nebenan zufrieden schnarchten), da hatte ich vergessen, wie schlecht ich mich manchmal in Deutschland gefühlt hatte.
Noch vor dem Morgengrauen stand ich auf. Ich hatte einen kleinen Stoffbeutel neben dem Bett hängen, in dem ich zweimal die Woche meine Turnkleidung verstaute. Jetzt stopfte ich die mir wichtigen Sachen hinein: das Taschenmesser, die Feldflasche, die nachtleuchtende Sternkarte. Verzweifelt schlich ich den Flur entlang, am Zimmer meiner Schwestern vorbei, an dem meiner nichts ahnenden Eltern. Dann verließ ich das Haus, ging durch die stillen Straßen zum Fluss und über die Brücke, wo der Ort zu Ende war, und weiter Richtung Osten, wo ich, viele Tagesreisen jenseits des Horizonts, Deutschland vermutete.
Ich war noch keine zwei Stunden unterwegs und die Sonne gerade erst aufgegangen, als mein Vater mich einholte. Er hielt mit seinem Mokick vor mir und nickte mir zu – ich sollte aufsteigen. Ich schüttelte den Kopf. Er stieg ab, ging drei, vier Schritte auf mich zu und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Dann standen wir uns gegenüber und starrten uns an, jeder bemüht, seine Tränen zurückzuhalten. Schließlich nahm er mich in die Arme.
Wir gingen zu Fuß. Ich fragte ihn, was mit dem Mokick sei, und er sagte, er werde es später holen. Wir liefen durch den Anbeginn des Tages, und es roch nach feuchter Erde und trocknendem Unterholz. Vögel zwitscherten, und in der Ferne bellte ein Hund. Es war das letzte Mal, Valentina, dass ich an der Hand meines Vaters ging.
Meine Mutter ist immer dagegen gewesen, dass ich zur Polizei gehe. Als sie erfuhr, dass ich mich bei der Guarda Nacional Republicana beworben hatte, drehte sie den Fernseher leiser und erhob sich schnaufend aus ihrem Sessel.
«Bist du völlig plemplem geworden, Fernao?» Sie war nicht unbedingt politisch, aber sie hielt die Guarda nicht für eine richtige Polizei. «Das sind Soldaten, verstehst du? Wenn du bei denen mitmachst, können die mit dir anstellen, was sie wollen! Hast du deinen Onkel Marcelo schon vergessen, hast du vergessen, wie du bei seiner Beerdigung geweint hast?» Das hatte ich in der Tat vergessen. Wahrscheinlich weil ich gar nicht geweint hatte. «Soll ich eines Tages einen Brief von so einem General bekommen, der mir mitteilt, dass du fürs Vaterland irgendwo in der Welt auf eine Mine getreten bist?»
«Aber wir haben doch keine Kolonien mehr», entgegnete ich naiv, «und es herrscht auch kein Krieg in Europa.»
Das ist jetzt über zwanzig Jahre her. 1990 – die Deutschen wurden in Italien zum dritten Mal Fußballweltmeister. Italien gewann zwar nicht die WM , aber dafür den Grand Prix de la Chanson mit dem Lied
Insieme:
1992. Der Refrain ging so: «Insieme, unite, unite, Europe!» Damit würden die Italiener heute wohl nichts mehr gewinnen, aber damals war das anders. Der Eiserne Vorhang war gefallen, die letzten Diktatoren gestürzt. Warum sollten wir uns nicht alle vereinigen?
Wir Portugiesen hatten uns gegenüber dem Grand-Prix-Desaster von 1974 verbessert – wir wurden diesmal Vorletzter. Der Wettbewerb fand wie immer beim Vorjahressieger statt, also in Jugoslawien. Jugoslawien, Valentina, ist ein Land, das es heute nicht mehr gibt. Ein paar Arbeitskollegen meines Vaters in der Kleisterfabrik waren Jugoslawen. Keine Ahnung, was sie jetzt sind. Jedenfalls gingen sich die Menschen, die in Jugoslawien lebten, im Jahr nach dem Grand Prix gegenseitig an die Kehle.
«Siehst du!», rief meine Mutter von ihrem Sessel aus, «von wegen, kein Krieg mehr in Europa!»
Ich hatte gerade meine Ausbildung beendet und stand in meiner neuen
Weitere Kostenlose Bücher