Bis zum letzten Atemzug
der wütend auf mich ist. Vielleicht habe ich ihn wegen Drogenmissbrauch oder häuslicher Gewalt ins Gefängnis geschickt oder weil er unter Alkoholeinfluss Auto gefahren ist. Zweitens, der Mann ist mein krimineller Bruder. Drittens, er ist Matthew Merritt, der Vergewaltiger. Das vierte und am wenigsten wahrscheinliche Szenario ist, dass es sich um meinen Exmann handelt, den Mann, den ich geheiratet habe, den Mann, der meiner Tochter ein wundervoller Vater ist und in einem tief verborgenen Flecken meines Herzens immer noch der Mann, von dem ich mir vorstellen kann, gemeinsam mit ihm alt zu werden.
Ich weiß, dass meine vier Minuten, um das Klassenzimmer zu erreichen, bereits aufgebraucht sind, also versuche ich, mich schneller zu bewegen. Meine Augen und der Strahl der Taschenlampe flitzen von links nach rechts, in jeder dunklen Ecke könnte sich eine Bedrohung verbergen. Ich nähere mich der Treppe, die zu den Klassenräumen hinaufführt. Wie oft bin ich diesen Weg schon mit Maria an der Hand gegangen. Beim Tag der offenen Tür, bei Eltern-Lehrer-Konferenzen, beim Winterfest. Ich komme nicht umhin, mir die Möglichkeit vorzustellen, dass ich den Raum aufrecht betrete und ihn auf einer Bahre liegend wieder verlasse.
Ein angsterfülltes Flüstern begrüßt mich, als ich mich an den Aufstieg mache.
»Ist es sicher?«
Mit der Waffe in der Hand wirbele ich herum und visiere automatisch das Ziel an. Dann richte ich den Strahl meiner Taschenlampe auf die Quelle des Geräuschs. Eine junge Frau hat ihren Kopf durch den Türspalt gesteckt. »Polizei«, sage ich. »Keine Bewegung.« Sie erstarrt, doch ich sehe die Erleichterung auf ihrem Gesicht. »Gehen Sie zurück in das Klassenzimmer«, ordne ich an. »Und schließen Sie die Tür. Lassen Sie das Licht ausgeschaltet. Das hier wird bald vorbei sein.«
»Ich heiße Jessica Bliss, ich bin die Lehrerin der ersten Klasse«, sagt sie schnell. »Bitte sagen Sie meinem Mann, dass ich ihn liebe.«
»Das werden Sie ihm bald selber sagen können«, versichere ich ihr sanft und frage mich, ob ich diese Worte auch irgendwann noch einmal werde aussprechen können.
AUGIE
In dem Schrank ist es stockdunkel, also nutze ich den Lichtschein des Displays von einem der Handys, das ich mir vom Fußboden geschnappt habe, nachdem es dem Mann aus der Tasche gefallen war. Meine Hände zittern, als ich versuche, mich an die Telefonnummer meiner Mutter zu erinnern. Ich will einfach nur ihre Stimme hören. Will ihr sagen, wie leid mir das mit dem Feuer tut, dass alles meine Schuld war.
Ich schaffe es, die Nummer zu wählen, und höre das Tuten an meinem Ohr, während ich darauf warte, dass sie rangeht. »Hallo?« Endlich höre ich ihre Stimme, müde und ganz schwach.
»Mom.« Ich schnappe nach Luft, als wenn meine Lungen immer noch mit Rauch gefüllt wären.
HOLLY
Ich befinde mich in dem angenehmen Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen. Dank der Morphiumpumpe empfinde ich keine Schmerzen, und beinahe kann ich glauben, dass die Muskeln, Sehnen und Hautschichten meines linken Armes sich selber zusammengeflickt haben, sodass meine Haut wieder weich und hell aussieht. Meine lockigen braunen Haare fallen mir wieder weich über den Rücken, meine Lieblingsohrringe baumeln an meinen Ohren, und ich kann beim Gedanken an meine Kinder beide Mundwinkel ohne Schmerzen zu einem breiten Lächeln verziehen. Ja, Medikamente sind etwas Wunderbares. Das Problem ist nur, die sorgfältig verschriebenen und mir von den Krankenschwestern verabreichten Betäubungsmittel lassen die Ecken und Kanten meines Albtraums zwar nicht mehr so scharf und schroff erscheinen, doch ich weiß trotzdem, dass dieses benommene, angenehme Gefühl bald verschwinden wird und ich mit Schmerzen und dem Wissen zurückbleibe, dass Augie und P. J. tausend Meilen von mir entfernt sind. Sie sind an den Ort geschickt worden, an dem ich aufgewachsen bin, in die Stadt, der ich geschworen habe, nie wieder zu ihr zurückzukehren, in das Haus, in das ich keinen Fuß mehr setzen wollte, zu dem Mann, den sie nie kennenlernen sollten.
Die blecherne Melodie des Klingeltons, den Augie, meine dreizehnjährige Tochter in meinem Handy eingestellt hat, zieht mich aus dem Schlaf. Ich öffne ein Auge, das, welches nicht dick mit Salbe bedeckt und verkrustet ist, und rufe nach meiner Mutter, die irgendwann das Zimmer verlassen haben muss. Ich strecke meine Hand nach dem Telefon aus, das auf dem Tischchen neben meinem Bett liegt, und die Nervenenden in
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