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Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug

Titel: Bis zum letzten Atemzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudenkauf
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meinem bandagierten linken Arm protestieren vehement gegen die Bewegung. Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht, um das Telefon mit meiner unversehrten Hand zu nehmen, und drücke es an mein übrig gebliebenes Ohr.
    »Hallo.« Das Wort kommt halb ausgesprochen heraus, atemlos und rau, als wären meine Lungen immer noch mit Rauch gefüllt.
    »Mom?« Augies Stimme klingt zittrig, unsicher. Gar nicht wie meine Tochter. Augie ist selbstbewusst, klug, ein Mädchen, das Verantwortung übernimmt und sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen lässt.
    »Augie? Was ist los?« Ich versuche, gegen die Benommenheit anzublinzeln, die das Morphium in mir verursacht. Meine Zunge ist trocken und klebt an meinem Gaumen. Ich würde gerne einen Schluck Wasser aus dem Glas trinken, das auf dem Nachttisch steht, aber meine funktionierende Hand hält das Telefon. Die andere liegt nutzlos an meiner Seite. »Geht es dir gut? Wo bist du?«
    Ein paar Sekunden herrscht Schweigen, dann sagt Augie. »Ich liebe dich, Mom.« Ihr Flüstern endet in einem leisen Schluchzen.
    Mit einem Mal bin ich hellwach und setze mich im Bett auf. Schmerz schießt durch meinen bandagierten Arm, meinen Hals hinauf und bis in mein Gesicht. »Augie, was ist los?«
    »Ich bin in der Schule.« Sie weint, so wie sie es tut, wenn sie sich größte Mühe gibt, es nicht zu tun. Ich sehe sie förmlich vor mir, den Kopf gesenkt, ihr langes braunes Haar fällt ihr übers Gesicht, ihre Lider sind zusammengepresst, sie ist fest entschlossen, die Tränen vom Fallen abzuhalten. Ihr Atem füllt mein Ohr mit kurzen, hohlen Zügen. »Er hat eine Pistole. Er hat P. J., und er hat eine Pistole.«
    »Wer hat P. J.?« Panik schnürt mir die Kehle zu. »Erzähl es mir, Augie. Wo bist du? Wer hat eine Pistole?«
    »Ich bin in einem Schrank. Er hat mich in einen Schrank gesperrt.«
    In meinem Kopf dreht sich alles. Wer könnte so etwas tun? Wer könnte meinen Kindern so etwas antun? »Leg auf«, sage ich zu ihr. »Leg auf und rufe sofort die Polizei an, Augie. Dann ruf mich zurück. Schaffst du das?« Ich höre ihr Schluchzen. »Augie«, sage ich etwas schärfer. »Schaffst du das?«
    »Ja«, sagt sie endlich. »Ich liebe dich, Mom«, sagt sie leise.
    »Ich liebe dich auch.« Meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich spüre, wie sich die Flüssigkeit unter dem Verband sammelt, der mein verletztes Auge bedeckt.
    Während ich darauf warte, dass Augie auflegt, höre ich drei Schüsse schnell hintereinander, denen zwei weitere folgen, und Augies durchdringenden Schrei.
    Ich spüre, wie der Verband, der die linke Seite meines Gesichts bedeckt, sich lockert, wie mein eigener Schrei die Klebestreifen löst, die ihn an Ort und Stelle halten. Ich spüre, wie die zarte, frisch transplantierte Haut sich auflöst. Ich bin mir nur am Rande bewusst, dass die Krankenschwestern und meine Mutter an meine Seite eilen und mir das Telefon aus den verkrampften Fingern nehmen.

WILL
    Nachdem die Highway Patrol, der Abschleppdienst und der Krankenwagen fort waren, konnte Will auch fahren. Er ertrug allerdings den Gedanken nicht, in sein eigenes Haus zurückzukehren – nicht bis seine Enkel sicher an seiner Seite waren –, also fuhr er zum Lonnie’s zurück. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Straßen befanden sich in einem wesentlich besseren Zustand als vorhin. Im Lonnie’s angekommen, konnte er Verna nirgendwo erblicken, und der diensthabende Officer wusste nicht, ob sie schon über den Selbstmord ihres Schwiegersohns unterrichtet worden war. Obwohl es ihr vermutlich kein großer Trost sein würde, stellte sich Will vor, dass Verna und ihrer Familie dieser Ausgang der Geschichte lieber war, als wenn sich herausgestellt hätte, dass es sich bei dem Geiselnehmer in der Schule um Ray gehandelt hatte. Er setzte sich wieder an einen verkratzten, klebrigen Tisch, trank Kaffee und versuchte, die Zeit rumzubringen. Die Ereignisse des Tages hatten ihn so erschüttert, dass er zwar auf die aufgeschlagene Zeitung vor sich schaute, sich aber nicht auf die Artikel konzentrieren konnte.
    Ein Rumpeln war zu hören, und alle eilten ans Fenster. Ein weiterer Schulbus fuhr vor dem Café vor. »Es kommen weitere Kinder!«, rief jemand, worauf der nun schon vertraute Ansturm auf die Tür einsetzte, um die Kinder zu begrüßen. Will schob seinen Stuhl zurück und gesellte sich zu der Gruppe. In dem Moment vibrierte sein Handy. Es war Marlys. Er wusste, er sollte rangehen, aber er wollte schauen, ob Augie und

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