Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug

Titel: Bis zum letzten Atemzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudenkauf
Vom Netzwerk:
Schlag aus. Ich versuche, wegzulaufen, aber da ich nur Socken anhabe, rutsche ich weg, und ehe ich mich versehe, öffnet sich die Tür, und ich werde in das Klassenzimmer gezerrt.
    »Wer bist du?«, fragt der Mann. Er hält mich am Oberarm fest und mustert mich von Kopf bis Fuß.
    Ich sehe R J. mit dem Rücken an die Tafel gedrückt stehen. Seine Lehrerin, die aussieht, als hätte ihr jemand mit einem Baseballschläger den Kopf eingeschlagen, hat die Arme um zwei andere Kinder geschlungen. Ein Mädchen mit schwarzen, zerwühlten Haaren und einen kleinen Jungen mit Topf schnitt und Zahnspange.
    Alle schauen mich mit offenen Mündern an. Mir wird bewusst, dass ich wie eine Verrückte aussehen muss. Ich habe keine Schuhe an, das Sweatshirt, das ich trage, ist mir zehn Nummern zu groß, und ich habe freiwillig einen Blick in einen Klassenraum geworfen, in dem sich ein bewaffneter Mann befindet. »Wer bist du?«, fragt der Mann noch einmal.
    »Au-Augie«, stottere ich. »Das da ist mein Bruder.« Ich zeige auf P. J.
    »Glaubst du auch, ich bin dein Dad?«, fragt der Mann. Ich versuche, einen Sinn in seinen Worten zu finden, und schaue zu P. J., der den Blick fest auf seine roten Converse-Sneaker geheftet hat.
    P. J. hat vermutlich gedacht, dieser Irre wäre sein wirklicher Vater. Er schaut immer Männern auf der Straße nach, sucht in ihren Gesichtern nach Ähnlichkeiten. Eine ganze Zeit hat er unserer Mutter Fragen über Fragen gestellt. Welche Haarfarbe hatte mein Dad? Welche Farbe hatten seine Augen? War er groß oder klein? Die einzige Information, die er ihr je entlocken konnte, war, dass er bei ihrem Kennenlernen ein Marine auf dem Weg nach Afghanistan gewesen war.
    P. J. hörte mit den Fragen auf, als unsere Mutter irgendwann die Geduld verlor und anfing zu weinen und ihm sagte, sie würde ihm an seinem achtzehnten Geburtstag den Namen seines Vaters verraten, und in der Zwischenzeit möge er bitte erkennen, wie gut er es habe, obwohl wir nur zu dritt waren. »Du könntest auf einer Farm in Iowa feststecken, auf der du drei Stunden am Tag Kuhscheiße schaufeln musst!«, rief sie, bevor sie sich im Badezimmer einsperrte. Ich frage mich, was sie an P. J.s achtzehntem Geburtstag tun wird, wenn er seine Hand aufhält, um den kleinen Papierschnipsel mit dem Namen und der Adresse seines Vaters entgegenzunehmen. P. J. hat ein wahres Elefantengedächtnis. Er vergisst niemals etwas. Obwohl meine Mutter es nie gesagt hat, vermute ich, sie weiß selber nicht, wer P. J.s Vater ist.
    Der Mann schaut mich misstrauisch an, erkennt dann aber ziemlich schnell, dass ich für eine verdeckte Ermittlerin der Polizei zu jung und schwächlich bin. »Können wir jetzt gehen?«, frage ich. P. J. fängt an, auf mich zuzugehen.
    »Noch nicht.« Der Mann schüttelt energisch den Kopf.
    »Aber Sie haben gesagt …«, setzt P. J.s Lehrerin an. Ihr Gesicht ist schwarz und blau und geschwollen, und ihre Worte klingen wie Ba’sie harn gesacht.
    Der Mann hebt eine Hand, um die Frau zum Schweigen zu bringen.
    »Geduld«, sagt er. »Ich brauche euch alle nur noch ein kleines Weilchen, und wenn ihr tut, was ich sage, könnt ihr gehen.«
    Ich will ihn fragen, wer tun soll, was er sagt, und was passiert, wenn wir es nicht tun. Das kleine Mädchen fängt an zu weinen, ihre Schultern zittern, während der kleine Junge mit der Zahnspange sich auf die Lippe beißt, um nicht auch loszuweinen, und seine Lehrerin anschaut, damit sie ihm sagt, was er als Nächstes tun soll.
    »Setzt euch«, sagt der Mann. Ich beobachte P. J. Er sieht einfach nur wütend aus. Ich habe diesen Blick an ihm schon mal gesehen. Es ist der gleiche Gesichtsausdruck, den er kriegt, wenn ich zu weit gehe oder ihn zu sehr hänsel. P. J. wird nicht oft wütend, aber wenn, dann ist Vorsicht angesagt. Ich schüttele meinen Kopf und bedenke meinen Bruder mit einem Blick, der besagt, wag es ja nicht. Wir gehen alle zu den Tischen und setzen uns in die erste Reihe. »Sie sollte jetzt jederzeit kommen«, sagt der Mann. Dann setzt er sich auf den Lehrerstuhl und schließt die Augen.
    Ich könnte es schaffen, ihn zu überwältigen, denke ich. Wenn es sein muss, kann ich sehr schnell sein. Ich muss nur über den Tisch springen und auf ihm landen, ihm die Waffe aus der Hand schlagen. Ich werfe Mrs Oliver einen verstohlenen Blick zu und ernte den gleichen Wag-es-ja-nicht- Blick , den ich eben noch R J. geschickt habe.
    »Wer soll denn kommen?«, fragt Mrs Oliver. Die verletzte Seite ihres

Weitere Kostenlose Bücher