Bis zum letzten Atemzug
einen Alarm gegeben hatte und sie die Klassen nicht verlassen sollten, aber keiner von ihnen hat einen Mann mit einer Waffe gesehen.« Verna blinzelt hinter ihren dicken Brillengläsern, sagt aber nichts. Ich entscheide mich, direkt zur Sache zu kommen. »Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn leben getrennt, richtig? Und die Scheidung ist eingereicht?«
»Ja«, sagt Verna misstrauisch. Angst blitzt in ihren Augen auf.
»Ich frage mich …«, beginne ich vorsichtig und versuche, die richtigen Worte zu finden. »Ich weiß, dass es während Scheidungsverfahren oftmals zu hitzigen Diskussionen über das Sorgerecht für die Kinder kommt.«
»Sie fragen sich, ob Ray Cragg der Bewaffnete in der Schule sein könnte, weil Darlene ihn die Mädchen nicht sehen lässt«, sagt Will Thwaite geradeheraus. Verna sackt neben ihm sichtlich zusammen.
»Ja, genau das frage ich mich.« Ich schaue von einem zum anderen. »Wir haben ein Gebäude voller Kinder und niemand scheint zu wissen, wer ein Motiv hätte, bewaffnet die Schule zu stürmen. Im Moment scheint Ray Cragg das einzige Elternteil zu sein, dessen Verbleib ungeklärt ist.«
Vernas Augen füllen sich mit Tränen, die sie mit einer zerknüllten Serviette abtupft. »Seitdem ich von dem Vorfall weiß, versuche ich, ihn zu erreichen. Ray hat meine Tochter fürchterlich behandelt, und ich bin froh, dass sie sich von ihm scheiden lässt.« Verna presst die Lippen aufeinander und hat sichtlich Mühe, fortzufahren. »Ray liebt seine kleinen Mädchen, und ich konnte mir nie vorstellen, dass er ihnen wehtun würde, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Sie schüttelt den Kopf, als wolle sie sich selbst überzeugen. »Nein, er würde den Mädchen nie wehtun. Niemals.«
»Aber er würde seiner Frau wehtun, stimmt’s? Er hat ihr wehgetan, und das kann er nun nicht mehr. Darlene hat eine Verfügung gegen Ray erwirkt. Also auch wenn er es wollte, könnte er sie nicht mehr verletzen – zumindest körperlich nicht.«
»Sie glauben, Ray droht, den Mädchen etwas anzutun, um sich so an Darlene zu rächen?«, fragt Will.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Deshalb frage ich ja Sie, Mrs Fraise.«
Verna stützt ihr Kinn in ihre von Altersflecken gesprenkelte Hand, ihre Finger bedecken ihren Mund, der vor unterdrückten Gefühlen zittert. »Es ist möglich. Ja, es ist möglich, dass Ray so etwas tun würde.«
»Okay. Ich werde das überprüfen und mich so schnell wie möglich wieder bei Ihnen melden. Wie geht es Darlene derzeit? Ist jemand bei ihr?«
»Ja, mein Mann Gene kümmert sich um sie. Sie war so aufgelöst, als Beth nicht mit den anderen Kindern hierhergekommen ist. Sie ist sicher, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist.«
Ich wende mich an Will Thwaite. »Ist Ihre Enkelin mit Beth befreundet? Könnte das der Grund dafür sein, warum Augie nicht mit den anderen Kindern aus dem Fenster gestiegen ist?«
»Ich weiß, dass Augie und Beth sich angefreundet haben«, sagt Will. »Aber ich würde sie nicht als beste Freundinnen bezeichnen. Augie und ihr Bruder sind vor acht Wochen zu uns gekommen, und sie war nicht sonderlich glücklich darüber, Arizona verlassen zu müssen. Ihre Mutter war … hatte einen Unfall, und Augie und R J. bleiben so lange bei uns, bis es ihr besser geht.«
»Also glauben Sie nicht, dass Augie wegen Beth in der Schule geblieben ist?«, frage ich.
Will schüttelt den Kopf. »Wahrscheinlicher ist, dass Augie versucht, R J. zu finden. Die beiden halten zusammen wie Pech und Schwefel, auch wenn Augie das niemals zugeben würde. Sie kümmert sich um den Jungen, als wäre sie seine Mutter. Und das Mädchen ist so stur wie ein Maulesel. Wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat, dann zieht sie das durch. Liegt wohl in der Familie, schätze ich. Wenn Sie wissen, wo P. J. ist, werden sie vermutlich auch Augie finden.«
»Das könnte der Grund sein, warum sie wieder in die Schule zurückgelaufen ist, nachdem sie Faith herausgebracht hat. In welcher Klasse ist P. J.?«
»Dritte Klasse, Mrs Oliver«, erwidert Will. »Da drüben ist Cal Oliver, Evelyns Ehemann.« Er zeigt auf einen dünnen, langbeinigen Mann mit weißem Bart und Glatze, der alleine an einem Ecktisch sitzt. Ich bin Mr Oliver nie vorgestellt worden, aber ich kenne ihn vom Sehen. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Handy, und er schaut es so eindringlich an, als könne er es mit seinem Blick zum Klingeln bringen.
»Ich muss jetzt los«, sage ich zu Will und Verna. »Danke für Ihre
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