Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug

Titel: Bis zum letzten Atemzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudenkauf
Vom Netzwerk:
klang nämlich, als wenn Jamie eine freiwillige, ja beinahe enthusiastische Interviewpartnerin gewesen wäre. Doch das war nicht die Jamie, die ich kannte. Meine Jamie war reserviert und teilte die schmerzlichen Details nur zögerlich mit. In dem Artikel allerdings blieb nur wenig der Fantasie überlassen. Der Kern der Geschichte stimmte, doch einige Aspekte passten nicht zusammen.
    »Ich habe den Artikel gelesen«, sagte ich, als Jamie ans Telefon kam. Ich bemühte mich, neutral zu klingen, obwohl ich enttäuscht war, dass sie mit Stuart gesprochen hatte – oder überhaupt mit einem Reporter. Der Artikel könnte sie ein Leben lang verfolgen, könnte sogar den Fall beeinträchtigen, sollte er je vor Gericht kommen.
    »Ich weiß.« Ich hörte die Besorgnis in ihrer Stimme. »Ich habe das nicht so gesagt, wie es bei ihm klingt. Das ist fürchterlich. Die Leute werden mich für einen entsetzlichen Menschen halten.« Sie fing an zu weinen.
    »Niemand weiß, dass es dabei um dich geht, Jamie«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Die Zeitung darf deinen Namen nicht veröffentlichen. Alles wird wieder gut«, murmelte ich, obwohl ich kein Recht dazu hatte, ihr so etwas zu sagen.
    Ich hörte Jamie einen Augenblick beim Weinen zu, dann stellte ich die Frage, deren Antwort mich brennend interessierte. »Jamie, warum hast du mit dem Reporter gesprochen?«
    Jamie schniefte und räusperte sich. »Er schien so nett zu sein, und er sagte, Sie und er wären sehr gute Freunde. Ich dachte, es wäre in Ordnung.«
    Das war noch schlimmer, als ich gedacht hatte. Stuart hatte Jamie nicht nur über mich aufgespürt, indem er mir in der Nacht, als sie mich panisch anrief, zu ihrem Haus gefolgt war. Nein, er besaß auch noch die Dreistigkeit, meinen Namen zu benutzen, um sich bei ihr lieb Kind zu machen. Nur deswegen hatte sie ihm vertraut.
    »Oh Jamie«, sagte ich leise. »Ich kenne ihn, aber er ist definitiv kein guter Freund von mir. Ich schwöre dir, ich habe niemals mit ihm über deinen Fall gesprochen, nie deinen Namen erwähnt und auch nicht vorgeschlagen, dass er mit dir reden soll.«
    »Ich weiß.« Jamie schluckte hörbar, ihre Stimme klang belegt. »Die Sache ist die, er war so nett, aber sein Artikel stimmt gar nicht. Die Hälfte der Dinge, die er schreibt, habe ich nie gesagt – oder zumindest nicht so, wie er sie darstellt.«
    »Jamie, ich werde der Sache auf den Grund gehen, das verspreche ich dir. Sprich solange mit niemandem sonst. Alles wird wieder gut.«
    Diese Unterhaltung hatte vor zwei Wochen stattgefunden. Seitdem hatte ich mich umgehört, Anrufe getätigt, mit verschiedenen Leuten gesprochen, mehr über Stuart in Erfahrung gebracht, als ich je hatte wissen wollen. Wenn es um eine Geschichte ging, war er gnadenlos. Dies war nicht das erste Mal, dass er ein Opfer umgarnt hatte, damit es ihm einen exklusiven Einblick in sein Martyrium gab. Ihr Wille, sich ihm zu öffnen, tat nur einer Person gut. Stuart Moore.
    Nun musste Jamie nicht nur die Vergewaltigung verarbeiten, sondern jetzt waren ihre Brüder auch noch mit einem bewaffneten Mann in der Schule eingesperrt, dessen Motive immer noch im Dunklen lagen. Wie viel konnte eine Familie ertragen? Wir müssen die Schüler vor Einbruch der Nacht aus der Schule holen. Es sind nur noch wenige Stunden, in denen wir Tageslicht haben. Ich stelle mir die Kinder vor, zusammengekauert in den Ecken einer im Dunkeln liegenden Schule, ohne zu wissen, was los ist. Ich zögere einen Augenblick, als ich mich der County Road B nähere. Ich kann nach rechts abbiegen und zurück zur Schule fahren oder nach links zu den Craggs weiterfahren. »Links«, sage ich laut und atme einmal tief durch.

WILL
    Die Farm der Craggs war, genau wie die der Thwaites, eine sogenannte Jahrhundertfarm, sprich, es war offiziell dokumentiert, dass sie sich seit über einhundert Jahren im Besitz der gleichen Familie befand. Will erinnerte sich noch an Theodore Cragg, Rays Vater, einen ernsten, sparsamen Mann, der für seine Farm lebte und immer gehofft hatte, seinen vier Jungen würde es genauso gehen. Drei der Cragg-Jungen hatten Broken Branch verlassen, um andere Lebenswege zu verfolgen, und nur Ray war daheimgeblieben, um das Erbe seines Vaters fortzuführen. Aber obwohl Ray ein ausgezeichneter Rinderwirt war, der seine Tiere liebte, der seine Felder liebte, war er kein besonders guter Geschäftsmann. In der Stadt kursierten Gerüchte, dass Ray kurz davorstand, die Farm zu verlieren, die seit über hundert

Weitere Kostenlose Bücher