Bis Zum Letzten Tropfen
fahre oder nicht.
Sie betrachtet die Tasse in ihrer linken Hand und die wenigen Esslöffel Blut, die sich darin befinden.
– Joe, glaubst du, dass wir in die Hölle kommen?
Ich nehme einen Zug und denke an Queens.
– Ja, ich glaube schon.
Sie seufzt.
– Ja, das glaube ich auch.
Sie schaut zu mir hoch.
– Daniel hat ständig an dich gedacht.
– Das bezweifle ich.
– Nein, wirklich. Ständig.
Sie schlägt eine Seite in dem Buch auf und fängt an zu lesen.
– Simon. Schon wieder. Dieser junge Mann ist eine ständige Quelle der Ablenkung. Ich will gar nicht wissen, wie viel Zeit ich schon damit verschwendet habe, ihn zur Vernunft zu bringen. Vergeblich. Nein. Nicht vergeblich. Aber sehr ermüdend. Man sieht, auch ich bin nicht ohne Fehler. Wieder meine Ungeduld. Wer hat noch mal gesagt, dass sie meine größte Schwäche wäre? Ich weiß nur, dass dieser Jemand inzwischen gestorben ist. Möglicherweise ist der Grund, warum ich es immer wieder mit ihm versuche, dass er mir einen Vorwand liefert. Einen Vorwand, um wenigstens gelegentlich mit jemand anderem zu sprechen als mit denen, die schon so lange meine Gesprächspartner sind. Das Vyrus an sich ist von endloser Faszination, doch ständig nur darüber zu reden ist todlangweilig. Heute ist jedenfalls etwas Interessantes passiert. Ich habe Hunger. Seltsam.
Sie blättert weiter.
– Das steht fast am Ende des letzten Heftes. Aber es gibt noch viel mehr davon.
Sie deutet auf die Regale, die zwei Wände der Zelle einnehmen. Jedes Regalbrett ist bis auf den letzten Zentimeter mit Heften, Kladden und Tagebüchern vollgestopft.
– Sehr viel mehr. Erst hab ich ein paar nach dem Zufallsprinzip rausgezogen und gelesen. Dann hab ich eins vom Ende genommen und deinen Namen entdeckt. Simon.
Sie deutet mit dem Kinn auf die Tür.
– Ein paar von denen haben ihn fallen lassen, als sie über dich geredet haben. Daher wusste ich, wer gemeint ist. Außerdem hat er dich genau beschrieben: mürrisch, kindisch, temperamentvoll, witzig. Da hat’s bei mir geklingelt. Und ich hab nach dem ersten Heft gesucht, in dem dein Name steht.
Sie deutet auf ein Notizbuch mit rotem Rücken, das auf einem der Regale liegt.
– Das da. Aus den späten Siebzigern.
Sie sieht mich an.
– Wie alt bist du?
Ich scharre mit den Füßen.
– Bald fünfzig.
Sie nickt.
– Komisch. Du bist der Letzte, von dem ich dachte, dass er lügt, was sein Alter angeht.
Ich werfe einen Blick auf die Tür.
– Hör mal, Baby. Ich hör mir ja gerne an, was alles so passiert ist, aber vielleicht ist es keine schlechte Idee, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
Sie drückt mit der Spitze ihres Zeigefingers gegen die Mitte ihrer Stirn und schließt die Augen.
– Weißt du, was ich wirklich hasse?
Sie öffnet die Augen.
– Dass ich mir manchmal so blöd vorkomme, wenn ich an all den Kram denke, den du mir erzählt hast: dass du nicht in die Sonne gehen könntest wegen deiner Allergie; dass du die Blutbeutel und Kühltaschen hättest, weil du Organkurier bist. Und dann dieser Geheimraum im Keller.
Sie schließt wieder die Augen.
– Und wie einfach es war, dich zu überzeugen, dass wir nicht ficken können. Weil ich dich nicht mit AIDS anstecken wollte. Du hast das ohne Widerspruch akzeptiert. Du hast nie auch nur angedeutet, dass du dieses Risiko mir zuliebe bereitwillig eingehen würdest.
Sie reibt sich mit den Knöcheln über die Augen und wischt ein paar vereinzelte Tränen weg.
– Scheiße.
Dann trocknet sie sich die Finger an ihrem weißen Rock.
– Und dann denke ich, Wie konnte ich nur so dumm sein? Wieso hab ich nicht gemerkt, dass er ein Scheißvampir ist?
Sie ballt die Hand zur Faust und schlägt damit auf den Boden.
– Und das hasse ich. Ich hätte von selbst drauf kommen müssen. Hätte ich den ganzen Scheiß mal im Kontext gesehen, deine komischen Marotten, unsere beschissene Beziehung, hätte ich wirklich drüber nachgedacht, hätte die Lösung zwangsläufig Vampir gelautet. Was leider völlig durchgeknallt klingt.
Ich gehe in die Hocke und stütze mich auf einem Knie ab.
– Baby.
Sie deutet wütend mit dem Finger auf mich.
– Nicht! Nenn mich ja nicht Baby.
Ich strecke den Arm aus und berühre mit dem Finger ihre nackte Fußsohle.
– Baby.
Sie presst die Lippen aufeinander.
– Scheiße! Leck mich. Du Arschloch!
Ich drücke ihren Fuß.
– Baby.
Sie schlägt wieder auf den Boden.
– Du beschissenes blödes Arschloch!
Ich drücke etwas
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