Bis Zum Letzten Tropfen
spielst, obwohl du versuchst, dich möglichst um alle Arbeit zu drücken, obwohl du den ganzen Tag davon träumst, wie cool es wäre, wenn du hier das Sagen hast und dir dein Leben etwas angenehmer gestalten könntest, tust du trotzdem alles, was von dir verlangt wird. Zwar aus völlig falschen Gründen, aber, Mann, du tust es.
Er breitet die Arme aus.
– Ich meine, sieh mich doch mal an, Mann.
Ich sehe ihn an. Seine Haut ist so weiß wie sein Anzug. Er ist kahl. Sein ohnehin schlanker Körper ist nun völlig ausgemergelt.
Er klatscht in die Hände.
– Ich hab die ganze Zeit versucht, hier das Kommando zu übernehmen. Dabei ist in Wirklichkeit ganz was anderes passiert, Mann. Ich hab mich verändert. Um meine Rolle zu spielen, musste ich das Vyrus wirklich hungern lassen. Das war ziemlich anstrengend. Also hab ich mich hingesetzt und richtig meditiert. Und plötzlich war alles, was ich über das Vyrus wusste, als ich es noch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet habe, vergessen. Das bisschen Medizinstudium – weg.
Er legt die Hände auf den Kopf.
– Ich sage dir, wenn das Scheißvyrus ein Arschloch wie mich verändern kann, dann ist es nicht von dieser Welt. Verstehst du?
Er richtet die Arme zum Himmel.
– Ich glaube, Mann! Ich bin bekehrt! Und das ist großartig!
Er grinst wieder.
– Weißt du, Joe, ich bin drüber weg. Über unsere Vergangenheit, die ganzen alten Geschichten und Komplikationen, den ganzen Scheiß.
Er streckt die Hand nach mir aus.
– Schließ dich uns an, Mann!
Und ich schlage zu.
Er steckt es prima weg. Fällt hintenüber, rappelt sich sofort wieder auf und deutet grinsend auf mich.
– Ich liebe dich, Mann!
Er kommt so schnell auf mich zu, dass ich keine Zeit habe, zu reagieren, und schlingt die Arme um mich.
– Ich liebe dich, Joe Pitt!
Wenn man einen Verrückten in ein Irrenhaus steckt, kann man drauf wetten, dass es noch schlimmer mit ihm wird. Das ist eine todsichere Sache.
– Es ist ja nicht so, dass ich völlig von wahnsinniger Vyrusliebe erfüllt wäre und jeden davon überzeugen will. Hier geht’s um was viel Praktischeres. Sieh dich mal um, vielleicht findest du raus, worauf ich hinauswill.
Wir stehen am Geländer der Treppe zum oberen Stockwerk und blicken hinab auf die Sparringskämpfe, die inmitten der knienden Enklavejünger stattfinden.
Schweigend betrachte ich die Kämpfer.
Ich muss auch gar nichts sagen. Wenn man wissen will, was der Graf gerade denkt, wartet man einfach, bis er eingeatmet hat und den nächsten Wortschwall von sich gibt.
– Okay, du beobachtest sie. Wie dir sicher aufgefallen ist, haben wir uns vergrößert.
Er zeigt mir erst fünf Finger, dann fünf weitere.
– Wir sind doppelt so viele. Das ist schon verrückt, so ein Haufen Leute. Wir wissen gar nicht, wo wir die neuen Jünger unterbringen sollen. Und obwohl der Verzicht auf Blut unser Hauptanliegen ist, haben wir Probleme, genug davon ranzuschaffen.
Er deutet in eine Ecke auf der anderen Seite des Raumes, wo einer der Jünger den Deckel von einem großen Kanalisationsschacht geschoben hat. Ein anderer wirft einen leblosen Körper in das Loch.
– Sobald einer ausgeblutet und da drin verschwunden ist, brauchen wir schon den nächsten. Wachstum hat immer seinen Preis, Mann. Das lernt man schon in der Schule.
Er schüttelt den Kopf.
– Aber das ist gar nicht der Punkt, über den ich eigentlich sprechen wollte. Der eigentliche Punkt ist, dass wir viele neue Leute reinkriegen. Neue Ideen, neue Energie. Menschen, denen im Leben etwas Wichtiges fehlt. Und wir können es ihnen geben.
Ich nutze eine kurze Pause in seinem Redefluss, um einen Einwand anzubringen.
– Ich hab immer gedacht, das Vyrus entscheidet, wer hier aufgenommen wird.
Er blickt sich um.
– Ja, klar. Sicher, Mann. Aber die Zeiten ändern sich. Früher hat Daniel entschieden, ob jemand zur Enklave gehört oder nicht. Und jetzt muss eben jemand anderes diese Aufgabe übernehmen.
Ich sehe ihn an.
Er schüttelt fast unmerklich den Kopf.
– Hey, ich hab mich nicht drum gerissen. Aber wie gesagt, ich hab mich verändert, und das verleiht mir hier eine gewisse Glaubwürdigkeit. Okay, ich will auf keinen Fall schlecht über Daniel reden, wo er doch nicht mehr hier ist, aber in seinem Fall war’s wohl eher so, dass er sich beim kleinsten Anflug eines Zweifels gegen eine Mitgliedschaft entschieden hat. Ich bin da weniger restriktiv. Ich will, dass die Menschen kriegen, was sie brauchen.
Weitere Kostenlose Bücher