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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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bereits am Kai züngelten. Die Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft ging vor seinen Augen in Rauch auf. Er wartete auf das Hochgefühl. Er hatte alles getan, was er sich vorgenommen hatte. Der kleine Junge, der jede Nacht wach gelegen und sich ausgemalt hatte, wie er Rache nehmen würde, hatte sein Ziel erreicht. Seine Mutter und seine Schwester hatten Frieden in Gottes Armen gefunden.
    Und Lucien sollte in den Tiefen einer Hölle auf Erden brennen.
    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er wieder zu Lucien blickte. Lucien war mittlerweile auf dem Boden zusammengebrochen. Die Farbe der Asche trieb durch die Luft. Er atmete, und seine Finger vergruben sich wirkungslos in dem Teppich unter ihm. Aber er konnte nichts tun, außer dort zu liegen und seinem Schicksal ins Auge zu blicken.
    „Ich werde Sie hier zurücklassen. Den Weg nach draußen müssen Sie selbst finden“, sagte Raphael. „Ich würde Ihnen raten, so schnell wie möglich zu verschwinden. Dieses Gebäudeist vielleicht nicht in Gefahr – das ist allerdings nicht sicher. Nichts im Leben ist sicher, nicht wahr? Es hält immer wieder Überraschungen bereit.“
    Er ging zur Tür, doch er wollte noch einen Blick auf Lucien werfen. Noch immer empfand er keinen Triumph. An der Tür blieb er stehen, drehte sich um und bemerkte, dass Lucien ganz ruhig dalag. Ganz sacht hob und senkte sich noch sein Brustkorb. Raphael wartete darauf, dass ihn der Anblick mit Freude erfüllen würde, aber er war innerlich genauso leer wie zu der Zeit, bevor er sich in Luciens Tochter verliebt hatte.
    Aurore. Er drehte sich endgültig um. Egal, ob er nun etwas empfand oder nicht – die Vergangenheit lag hinter ihm. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Lucien sich wieder erholen würde oder dass Fantome rechtzeitig zurückkehren würde, um ihm zu helfen. Lucien hatte schon Schlimmeres überlebt. Jetzt blieb Raphael noch genug Zeit, um zum Bahnhof zu laufen, wo er sein Gepäck bereits deponiert hatte. Aurore würde den Rauch sehen und sich Sorgen machen, doch er würde sie beruhigen. Dann, wenn sie sicher im Zug säßen, würde er seinen Erfolg in seiner Vorstellung noch einmal durchleben und endlich Genugtuung empfinden.
    Er nahm drei Stufen auf einmal und schloss die Tür auf. Wie er nicht anders erwartet hatte, war die Luft voller Asche. Er hörte das Klappern der Räder des Feuerwehrwagens und die Rufe der Männer am Flussufer.
    Als er hinaustrat, traf ihn eine Welle versengender Hitze. Damit hatte er nicht gerechnet. Der Wind, der am Nachmittag nicht mehr als eine sanfte Brise gewesen war, war stärker geworden. Nun fachte er die Flammen an. Eigentlich hatte er nicht mehr die Zeit, um die Lage näher zu erkunden, aber ein Teil von ihm bestand darauf, auch wenn es bedeutete, dass er den Weg zur Rampart Street würde rennen müssen.
    Das Feuer faszinierte ihn. Er ging in Richtung des Flusses, über den Hof, auf dem die Dauben gelagert wurden, und denselbenWeg entlang, den er einst mit Aurore genommen hatte. Mit jedem Schritt wurde der Rauch dichter und bedrohlicher. Als er zum Fluss kam, sah er den Grund: Der Kai stand in Flammen. Doch es war der Anblick des brennenden Schiffes, der seine Aufmerksamkeit fesselte. Noch nie hatte er etwas Derartiges gesehen. Von Flammen umgeben, war von der SS Danish Dowager nur noch die Hülle dessen übrig, was sie einst gewesen war. Das kleine Feuerschiff, die Samson, versuchte tapfer, die Qualen der Dowager zu lindern, aber es war hoffnungslos.
    Er hatte seine Rache. Sie wand sich im Wasser vor ihm. Während er auf das brennende Schiff starrte, vermischte sich der Anblick in seinem Kopf mit einem anderen, dem Anblick eines kleinen, zerbrechlichen Bootes mit drei verängstigten Passagieren. Er spürte, wie das Boot unter ihm bedenklich wankte, spürte das raue Holz des Sitzes unter seinen Fingern, mit denen er sich festklammerte. Er schloss die Augen, doch die Bilder wurden nur noch deutlicher. Über das Heulen des Windes hinweg hörte er seine Mutter schreien. Er kniff die Augen fester zusammen, aber er sah wieder, wie der Körper seiner Schwester durch die Luft geschleudert wurde und unter einer Welle verschwand, die höher als ein Eichenbaum war. Er griff nach seiner Mutter, doch sie schüttelte seine Hände ab und sprang ihrer Tochter hinterher.
    Eine Ewigkeit hatte er sich an den Sitz geklammert. Genauso wie er sich an seinen Hass auf Lucien Le Danois geklammert hatte. Genauso wie er sich an seine Entschlossenheit geklammert

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