Bis zur letzten Luge
Reisküchlein, eingeschlagen waren. „Ich wollte ihr etwas zu essen mitbringen, damit sie mir hilft.“
„Das ist keine Entschuldigung.“
Der Teppich war gemustert, mit einer blutroten Umrandung, die nur einen Ton heller als die Tapete war. Nicolette krallte ihre Zehen in eine Ecke des Teppichs und spürte den kühlen glatten Holzfußboden darunter. „Ich bin schon lange wach.“ Sie riskierte noch einen Blick in sein Gesicht. „Ich war so allein.“
„Du sollst nicht hier heraufkommen. Hast du mich verstanden?“
Einen Moment lang fragte sie sich, was passieren würde, wenn sie Nein sagte. Würde er sie dann schlagen? Sie glaubte, dass er sie gern schlagen würde. Er sah immer so aus, als würde er sie schlagen wollen, obwohl er es noch nie getan hatte. Manchmal fragte sie sich, wie es sich anfühlen mochte, wenn er einmal zuschlagen würde. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre es besser. „Ich weiß“, sagte sie.
„Dann lauf los.“
Sie lief Fanny hinterher, die schon längst verschwunden war. An der Treppe blieb sie stehen und drehte sich um, umnoch einen Blick auf ihren Vater zu werfen. Er stand noch genau dort, wo sie ihn hatte stehen lassen, und starrte sie an.
Sie fand Fanny in der Vorratskammer, wo sie hinter einigen Säcken mit Reis kauerte. „Komm raus“, lockte sie sie. Als Fanny sich weigerte, begann sie die Worte zu singen. „Komm raus, komm raus“, sang sie. „Komm dahinten raus!“
„Mr Rafe findet mich mit Sicherheit!“
„Mr Rafe ist weg“, schwindelte Nicolette.
Fanny spähte hinter den Reissäcken hervor. „Da war eine Maus. Ich habe sie deutlich gesehen.“
„Wo?“ Nicolette zwängte sich neben sie hinter die Säcke. „Da drin.“ Fanny fing an, zwischen den Körben mit Zwiebeln zu wühlen. „Was hat Mr Rafe getan?“
„Er hat mir gesagt, ich soll nicht mehr nach oben gehen.“
„Oh.“
„Ich bin aber gern oben“, sagte Nicolette.
Fanny begann, Zwiebeln in die Ecke hinter den Körben zu werfen. „Du wirst nicht auf ihn hören.“
Nicolette machte sich nicht die Mühe zu antworten. Natürlich würde sie wieder nach oben gehen! Sobald sie sich sicher war, dass ihr Vater weg war – was er meistens war. Tagsüber war dort oben der schönste und interessanteste Platz im ganzen Haus. Violet und Dora, Emma und Florence – all ihre liebsten Menschen wohnten oben. Sie hatten Spiegel an allen vier Wänden ihrer Zimmer. Und sie hatten Kleiderschränke voller Kleider mit vielen Federn und Ziersteinchen, die im Licht der roten venezianischen Lampen im Azaleen-Salon glitzerten. Violet erlaubte es Nicolette, jedes Kleid anzuprobieren, das ihr gefiel. Manchmal zogen sie sich gleich an und taten so, als wären sie Schwestern.
Fannys Bemühungen wurden mit einem erschrockenen Quieken belohnt. Die Maus huschte über Nicolettes Fuß und verschwand hinter einem Korb mit Paprika. „Wenn Caroline die Maus entdeckt“, sagte Nicolette, „schneidet sie sie in klitzekleineStückchen.“
Nachdem die Maus außerhalb ihrer Reichweite war, hatte Fanny das Interesse verloren. „Guck mal nach, ob da draußen jemand ist.“
Nicolette gehorchte. Sie warf einen Blick zwischen den Holzbrettern der Tür hindurch. „Niemand.“ Fanny gab ihr einen Stoß, und Nicolette machte die Tür auf.
In der Küche war es heiß und stickig, und es duftete nach Kaffee. Früh am Morgen hatte Nicolette zugesehen, wie Caroline die Bohnen gemahlen hatte. Unter Carolines Aufsicht hatte sie selbst kochendes Wasser darübergegossen – immer nur ein bisschen, bis es reichte, damit Caroline Mr Rafe eine Mokkatasse voll Kaffee bringen konnte. Als sie zurückgekommen war, hatte sie ihre große eiserne Bratpfanne erhitzt und calas frittiert, die sie aus dem Reis gemacht hatte, der am Vortag übrig geblieben war.
Jetzt war Caroline mit Arthur, dem Butler und Kutscher, auf dem Markt. Auf der hinteren Herdplatte köchelten verführerisch duftende Speisereste in einem Suppentopf. Bis auf die Herzogin standen die Frauen im Haus nie vor dem späten Nachmittag auf. Aber wenn sie doch früher unten waren, wartete immer ein leckeres Essen auf sie. Während sie schliefen, putzten Fannys Mutter Lettie Sue und zwei Mädchen das Haus und entfernten die Spuren der vergangenen Nacht. Glasränder auf den edlen Möbeln der Herzogin, übervolle Aschenbecher, Schlamm oder Schlimmeres auf den Teppichen. Im Haus war es so still, wie es nur sein konnte.
„Dein papa ist der böseste Mann, den ich je gesehen habe“, krähte
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