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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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ich aus dem Nichts gesprungen. Wenn ich Kinder habe, was soll ich ihnen dann erzählen?“
    Sie hob eine Augenbraue. „Wirst du denn Kinder haben?“ „Ich weiß es nicht.“
    „Aber du denkst darüber nach?“
    „Im Moment denke ich über die Vergangenheit nach, nicht über die Zukunft.“
    „Ich würde ja helfen, wenn ich könnte.“
    Dieses Mal wusste Phillip, dass sie ehrlich war. Aus Gründen, die er nicht verstand, konnte Nicky ihm nicht mehr erzählen.
    „Waren meine Großeltern gute Menschen?“, fragte er. „Erinnerst du dich noch daran?“
    „Ich weiß wirklich nichts über meine Mutter. Aber meinVater war ein guter Mensch. Er wäre stolz auf dich gewesen.“
    Sorgfältig wählte er seine Worte. „Falls du jemals bereit bist, mir mehr zu erzählen, bin ich bereit, dir zuzuhören.“
    Sie stritt nicht ab, dass es noch mehr gab. Sie streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf dem Tisch auf seine. „Warum bringst du an einem der nächsten Abende nicht Belinda mit? Ich werde einen Tisch ganz vorn reservieren.“
    „Das mache ich gern.“
    „Du hast Familie um dich herum, Phillip. Es zählt nicht so sehr, von wem du abstammst, als vielmehr, wer neben dir steht. Vergiss das nicht.“
    Phillip war seit einer Stunde fort, als Nicky schließlich die Papiere beiseitelegte. Nach seinem Besuch hatte sie nicht mehr viel geschafft. Er hatte etwas getan, das sie für unmöglich gehalten hatte: Er hatte sie dazu gebracht, sich zu erinnern.
    Schon früh in ihrem Leben hatte sie gelernt, nicht zurückzublicken. Sie nahm an, dass ihr das von Natur aus nicht schwerfiel. Sie war ein unbeschwertes Kind gewesen, das eine Erfahrung nach der anderen gemacht hatte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was vorher passiert war. Ihre Welt war mit Farbe und Musik erfüllt, mit Frauen, die sich um sie kümmerten, und Männern, die ihr Geld gaben, weil sie hübsch war.
    In späteren Jahren war der Blick zurück zu schmerzhaft gewesen, also hatte sie nur nach vorn gesehen. Sie hatte die Dinge getan, die sie hatte tun müssen, um zu überleben, und sie hatte keine Sekunde bereut.
    Doch manchmal, wenn sie es am wenigsten erwartete, kam eine Erinnerung in ihr hoch. Ein Lied, der Duft der Magnolien im Mai, eine schwüle Sommernacht, und sie war zurück im Viertel.
    Sie erhob sich und ging zur Eingangstür. Die Dämmerung zog allmählich auf. Auf den Bürgersteigen von Iberville– oder den banquettes , wie die Einheimischen ihre Gehwege nannten – huschten die kleinen Kinder nach Hause und wurden von den älteren Kindern abgelöst, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden standen. Kinder, die – auch wenn es ihnen nicht bewusst war – versuchten, herauszufinden, wer sie waren.
    Ihr Sohn war siebenunddreißig und schon lange ein Mann. Aber wie die Kinder auf der Straße musste er sich selbst finden. Sie hatte Phillip alles gegeben, was sie konnte. Doch sie hatte ihm nicht gegeben, was er im Augenblick brauchte, nicht einmal die Einzelheiten ihrer Vergangenheit, an die sie sich erinnerte. In Phillips Leben gab es kein Fundament und kein Gefühl von Beständigkeit. Und wenn er von diesem Punkt aus weitermachen wollte, wenn er eine eigene Familie gründen wollte, musste er wissen, wohin er gehörte.
    Langsam ging sie die Straße entlang, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Stadt New Orleans hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, um alle Andenken an Storyville auszulöschen. Eine Zeit lang war sogar die Basin Street, die als Synonym für das Stadtviertel stand, in North Saratoga umbenannt worden. Erst in den Vierzigerjahren, als die Erinnerung an alles, was hier vor sich gegangen war, durch die Zeit verklärt worden und in neuem Glanz erstrahlt war, hatte die Straße wieder ihren alten Namen zurückbekommen. Aber zu dem Zeitpunkt hatte es wenig gegeben, das zu retten sich gelohnt hatte.
    Es war ein Zufall, dass der Club Valentine sich an der Basin Street befand. Vor Jahren, als sie und Jake sich entschlossen hatten, sich hier niederzulassen und einen Nachtclub zu eröffnen, hatten sie sich alle möglichen Grundstücke angesehen. Der Platz, für den sie sich entschieden hatten, war der am besten für ihre Zwecke nutzbare gewesen.
    Doch inzwischen fragte sie sich, ob tatsächlich alles ein Zufall gewesen war. Waren ihre Kindheitserinnerungen, diesie so lange unterdrückt hatte, an die Oberfläche gedrungen, als sie darüber nachgedacht hatte, das Gebäude zu kaufen? Hatten nostalgische Gefühle eine Entscheidung beeinflusst,

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