Bis zur letzten Luge
böse auf sie.
„Fanny und ich wollen reiten!“
„Ihr könnt jetzt nicht reiten. Lasst das. Und fangt nicht an zu schreien, oder die Herzogin kommt mit einer von Flos Peitschen hier raus – nur dass sie mich dann damit verprügelt!“
„Ich will reiten!“
„Du kannst jetzt nicht reiten!“
Nicolette wusste, dass er sie reiten lassen würde. Tony Pete konnte niemandem jemals eine Bitte abschlagen. Deshalb schickten ihn auch alle Frauen Besorgungen erledigen. Mit zwölf Jahren wusste Tony Pete schon, welche Drogerie an der Bienville Street mit Kokain handelte und welcher Zeitungsjunge Marihuanazigaretten verkaufte, drei für zehn Cent. Er schrieb alles auf eine Rechnung und sammelte sonntags sein Trinkgeld ein, wenn die Herzogin den Frauen ein Drittel ihrer Einnahmen ausbezahlte. Wenn jemand nicht zahlen konnte, wartete er auf sein Geld, ohne viel Aufhebens zu machen.
„Ich helfe dir beim Schaufeln“, sagte Nicolette. „Danach!“ „Ja, klar. Mit diesen schwächlichen kleinen Ärmchen kannst du ja nicht mal genug Mist einsammeln, um einen Fingerhut damit zu füllen.“
„Bitte, bitte?“ Nicolette faltete die Hände vor sich und legte den Kopf schräg, wie Violet es immer machte, wenn sie einen Mann mit aufs Zimmer nehmen wollte. „Ich bin auch lieb zu dir, Tony Pete.“
„Du bist zu jung, um so etwas zu sagen, Nickel.“ Er zausteihr das Haar, eine wilde Lockenmähne, die ihr über die Schultern reichte. „Also gut. Eine Runde für jede. Nur eine. Und auch nur, wenn die Herzogin nicht zufällig zusieht.“
„Sie schläft“, sagte Nicolette.
„Das tut sie gar nicht! Du lügst!“, entgegnete Fanny. Die beiden Mädchen stritten freundschaftlich darüber, während Tony Pete dem Kutschpferd der Herzogin einen Sattel anlegte. Die alte rotbraune Stute hieß Trooper und tat nur selten Dienst.
Nicolette sah, wie er sich auf dem Hof umblickte, ehe er Trooper aus dem Stall holte. Niemand war in der Nähe, und selbst wenn sie jemand vom Haus aus gesehen hätte, war es zu früh und zu heiß, um sich aufzuregen. „Die Jüngsten zuerst“, sagte er und verschränkte die Hände ineinander, um Nicolette in den Sattel zu helfen.
Nicolette bemerkte, dass Fanny schmollte. Sie hatte einen breiten hübschen Mund und lange geschwungene Wimpern, die sie bereits zu ihrem Vorteil zu nutzen wusste. Nicolette glaubte, dass Fanny ganz hingerissen von Tony Pete war. Er war aber auch ein echter Prachtkerl, wenn er in seiner besten gebügelten Hose und die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt die Straße entlangstolzierte.
„Du kannst beim nächsten Mal die Erste sein“, versprach Nicolette. Sie störte nicht gern das empfindliche Gleichgewicht ihrer Beziehung zu Fanny. Zwar war Fanny älter, aber Nicolettes Vater gehörte der Magnolia Palace . Die meiste Zeit über waren sie so gleichberechtigt.
Auf dem Rücken der Stute hüpfte sie aufgeregt auf und ab. Ihre Tage waren abwechslungsreich, und es gab immer was zu tun, aber ein Ritt auf Trooper war unbestritten ein Höhepunkt. Eines Tages würde sie ein eigenes Pferd besitzen – ach, Dutzende von ihnen –, und sie würde so reiten wie jetzt: die nackten Beine an die Flanken des Pferdes gepresst, durch Straßen, die sie nie zuvor gesehen hatte.
Tony Pete führte sie ein letztes Mal über den Hof, als Troopers unerwartetes Wiehern von einem anderen Pferd beantwortet wurde. Nicolette sah zum Haus und erblickte eine Kutsche, die auf der Auffahrt stand. Am Abend bevölkerten Pferdewagen und Autos die Basin Street, und in der engen Zufahrt staute sich der Verkehr. Doch zu dieser Tageszeit war es meistens ruhig.
Als Tony Pete ihr vom Pferd geholfen hatte, hatte sie bereits den Entschluss gefasst, sich den Besucher einmal näher anzusehen. Sie strich ihr Schürzenkleidchen glatt und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar. Wenn der Besucher ein Herr war, gab er ihr vielleicht Geld, damit sie eine Nachricht überbrachte. Je hübscher sie aussah, desto mehr Geld würde sie bekommen.
Nicolette erledigte gern etwas für die Herren, die das Haus besuchten, weil sie ihr immer Münzen oder Süßigkeiten schenkten. Manchmal bekam sie auch einen whiskeygetränkten Kuss auf die Wange. Sie wusste, dass sie ein süßer Fratz war. Wenn ihr Vater nicht da war, servierte sie in ihrem besten Kleid im Salon Wein. Manchmal sagte sie auch Gedichte auf, die Violet ihr beigebracht hatte. Sie verstand nicht alles, aber sie wusste, dass sie diese Gedichte besser nicht vor
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