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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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die ihren Familien entrissen und in überfüllte Schiffsrümpfe geworfen worden waren – hatten es durch die Jahrhunderte hindurch schwer gehabt, neue Stammbäume aufzubauen und Wurzeln zu entwickeln.
    Er war da nicht anders.
    Als er dieses Mal durch die Eingangstür des Clubs kam,probte Nicky nicht. Es war noch früh, und die Stühle standen noch immer auf den Tischen. Die meisten Lichter waren aus, aber der würzige Duft frisch zubereiteter Meeresfrüchte drang aus der Küche. Und das Beste war, dass Nicky in einer hell erleuchteten Ecke saß, die Füße hochgelegt hatte und Papiere durchblätterte. Sie sah auf und lächelte, als er näher kam. „Ich bin es nicht gewohnt, dass du so oft in meiner Nähe bist“, sagte sie. „Es ist ein tolles Gefühl, zu sehen, wie du durch diese Tür kommst.“
    Er küsste sie auf die Wange, ehe er sich einen freien Stuhl nahm. „Was machst du gerade?“
    „Ach, dies und das.“ Sie deutete mit einer Handbewegung auf den Tisch. „Rechnungen. Musik. Speisekarte. Es wird nie langweilig.“
    „Wo ist Jake? Ich dachte, er würde sich um die Rechnungen und die Speisekarte kümmern.“
    „Er ist ein paar Tage in den Norden gefahren. Seiner Schwester geht es nicht gut. Du erinnerst dich doch noch an Lottie?“
    Phillip nickte. Als Jake und Nicky geheiratet hatten, hatte Nicky praktisch eine komplette Familie geheiratet: Jake hatte noch neun Geschwister.
    „Sieht so aus, als würde sie sich bald wieder erholen, aber er wollte seine Familie sowieso besuchen. Im nächsten Monat fahren wir zusammen zu ihnen.“
    „Wie ist es so, wenn man all diese Menschen um sich herum hat?“
    „Warum kommst du nicht irgendwann einmal mit uns und findest es selbst heraus?“
    „Brauchst du Verstärkung?“
    „Es sind nette Leute. Sie haben schließlich Jake hervorgebracht, oder? Es sind einfach nur so viele.“
    „Warst du nicht als Kind ständig von allen möglichen Leuten umgeben?“
    „Das war etwas anderes.“
    Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und war zufrieden, dass sie so schnell zum eigentlichen Grund seines Besuchs gekommen waren. „Erzähl mir darüber. Du sprichst fast nie über deine Vergangenheit.“
    „Es kommt mir so vor, als würdest du genug über die Vergangenheit von Leuten erfahren, ohne dir auch noch meine Erzählungen anzuhören. Wie läuft es überhaupt mit dem Interview?“
    „Es hat mir gezeigt, wie wenig ich über meine eigene Geschichte weiß.“
    „Es gibt nicht viel zu sagen.“
    „Erinnerst du dich gar nicht an deine Mutter?“
    „Sie ist gestorben, als ich geboren wurde.“
    „Und dein Vater?“
    „Ist gestorben, als ich noch ein Kind war.“
    „Was ist mit Verwandten?“
    „Keine, die ich kennengelernt hätte.“
    „Und du weißt nichts über deine Familie?“
    „Ich habe dir von Clarence erzählt. Der Rest meiner Familie waren Menschen, die mich sozusagen nebenbei miterzogen haben. Sie waren die Familie, dich ich brauchte. Eine andere Familie habe ich nicht vermisst.“
    Phillip kannte Nickys Antworten schon. Es waren immer dieselben. Sie hatte ihm gern Informationen über ihr Leben nach seiner Geburt gegeben, doch ihre frühen Jahre waren ein Geheimnis.
    „Du sprichst nicht gern darüber, oder?“
    Sie blickte von einem Notenblatt auf. „Ich kann nicht über etwas sprechen, an das ich mich nicht erinnere.“
    „Weißt du noch, wie es war, ein Kind in der Basin Street zu sein?“
    „Ich weiß nicht mehr viel über diese Zeit. Ich kann dir nicht einmal sagen, wie alt ich war, als wir weggezogen sind.
    Aber ich war noch immer sehr jung. Ich erinnere mich daran, dass ich die Musik vermisst habe. In der Basin Street gab es immer Musik.“
    „Und an dem Ort, an den ihr gezogen seid, gab es keine Musik?“
    Sie sah an ihm vorbei, als versuchte sie, sich zu erinnern. „Es gab Musikunterricht.“ Sie blickte ihn an. „Mein Vater hat dafür bezahlt. Lustig, was kleinen Kindern im Gedächtnis bleibt.“
    „Dann war dein Vater damals noch am Leben?“
    „Ja.“
    „Weißt du noch, wann er starb?“
    Sie zögerte nur einen Augenblick zu lange. „Nein.“ Nicky war beinahe zwanghaft ehrlich. Wenn Phillip als Kind einmal bestraft worden war, dann fürs Schwindeln. Jetzt sagte Nicky zum ersten Mal, solange Phillip denken konnte, selbst nicht die Wahrheit. Was auch immer sie darüber wusste, sie wollte es nicht mit ihm teilen.
    „Manchmal fühle ich mich, als würde ich nirgends herkommen, nirgends meinen Ursprung haben“, sagte er. „Als wäre

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