Bis zur letzten Luge
Fanny.
„Ist er das?“ Nicolette fand den Gedanken interessant. „Er hat die Augen des Teufels.“
Nicolette hatte den Teufel noch nie gesehen, aber sie dachte, dass er ein ziemlicher Anblick sein musste, wenn er solche Augen wie Rafe hatte. Nicolette konnte es kaum erwarten,bis sie die Dinge wusste, die Fanny schon wusste. Natürlich war sie sich nicht sicher, ob Fanny viel wusste, nur weil sie älter war. Es lag vielleicht daran, dass sie nicht in diesem Viertel wohnte. Sie lebte am anderen Ende der Stadt, an einem Ort, der Battlefield hieß, eine ganze Fahrt mit der Straßenbahn entfernt. Sie ging sogar mit ihren Brüdern und Schwestern zur Schule, wenn sie nicht gerade im Palace war, um ihrer Mutter zu helfen. Zwar mochte sie die Schule nicht, doch sie erzählte Nicolette Geschichten darüber, um sie eifersüchtig zu machen.
Stimmen drangen aus dem Flur. Nicolette hörte die tiefe Stimme ihres Vaters und die einer Frau, die sie sofort erkannte. „Die Herzogin ist wach“, sagte sie.
„Du hast gelogen! Mr Rafe ist immer noch da.“
„Versteck dich doch, wenn du willst.“ Nicolette ging durch die Tür und trat auf die Seitenveranda. Mit Blick auf den Eingang des Palace wartete sie im Schutz einer Kletterpflanze, die Caroline zur Karnevalszeit gepflanzt hatte. Glänzende grüne Chayoten hingen inzwischen herunter, schwer und reif und bereit, geerntet zu werden. Ein paar Minuten später sah sie, wie ihr Vater allein fortging.
Sie blieb, wo sie war, und beobachtete die Basin Street, die sich für den Tag bereit machte. Aus einer Kneipe, die ein Stück die Straße hinauf war, drang Musik. Sie hörte Blasinstrumente und ein Piano und das leise Trällern einer Frauenstimme. Ein Wagen, der von einem Pferd gezogen wurde, rumpelte langsam über das Kopfsteinpflaster. Der Fahrer, ein runzliger alter Mann, dessen Haut so dunkel wie Carolines Herd war, rief, dass er Brombeeren zu verkaufen habe. Fast augenblicklich wurde sein Rufen vom schrillen Pfeifen einer Dampflok übertönt, die in den Bahnhof einfuhr.
Drei Frauen mit Federhüten, Bewohnerinnen einer anderen Residenz im Viertel, schlenderten Arm in Arm den Gehweg entlang. Sie waren keine billigen Huren. Nicolette kannteden Unterschied. Die billigen Huren kleideten sich nicht wie Ladys. Einige von ihnen lebten am anderen Ende der Stadt und kamen nur ins Viertel, um zu arbeiten. Oft teilten sie sich mit einem anderen Mädchen ein Zimmer, damit sie es Tag und Nacht nutzen konnten.
Die billigen Huren brauchten keine schönen Kleider. Nach allem, was Nicolette wusste, brauchten sie die meiste Zeit über gar keine Kleider. Sie hatte sie fast nackt im Eingang zu gewissen Häusern in Iberville oder Conti stehen sehen. Dort sagten sie leise schmutzige Dinge zu den Männern, die vorbeikamen. Sie waren nicht wie die Frauen im Magnolia Palace, die ihre Kleider erst oben auszogen und dies auch nur für echte Herren taten.
„Ist er weg?“ Fanny stand in der Tür.
„Weg.“
„Gut!“ Fanny flitzte an ihr vorbei die Treppe hinunter und rannte zum Hof, wo die Ställe waren. Nicolette rannte ihr hinterher. Die Sommersonne kitzelte ihre Arme und die nackten Beine. Sie sollten draußen eigentlich nicht herumrennen; die Herzogin hatte ihr das öfter gesagt, als Nicolette zählen konnte. Doch die Herzogin hielt sie trotzdem nie auf.
Die Herzogin war keine echte Herzogin. Sie war einfach die alte Marietta Ardoin, und sie war nicht Herzogin genannt worden, bevor sie in die Basin Street gezogen war. Es gab in der Basin Street auch eine Gräfin – Gräfin Willie Piazza, die ebenfalls ein Bordell mit Frauen mit farbigen Vorfahren besaß. Aber da der Magnolia Palace besser war als das Haus der Gräfin, konnte jeder nachvollziehen, warum Marietta sich selbst Herzogin nannte.
Manchmal wünschte Nicoletta sich, die Herzogin würde mit ihr genauso reden wie mit Violet. Was Violet machte, war bedeutsam und wichtig. Nicolette fragte sich, ob sie eines Tages, wenn sie erwachsen war, im Zimmer neben Violet Männer unterhalten würde und ob die Herzogin dann endlichauch mit ihr reden würde.
Tony Pete, der ein rotes Flanellunterhemd und eine Hose mit herunterhängendem Hosenträger trug, war in den Ställen und mistete aus. Nicolette warf sich an seine Beine und klammerte sich fest. Vor Schreck fiel ihm die Schaufel aus der Hand und landete scheppernd auf den Steinen.
„Was, glaubst du, tust du da, Nickel, mein Mädchen?“, rief er. Doch er war nicht böse. Tony Pete war nie
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