Bis zur letzten Luge
Dieses Mal lauter.
„Du solltest besser gehen“, sagte die Frau. Aber noch währendsie die Worte aussprach, streckte sie die Arme aus, um Nicolette festzuhalten.
„Kommen Sie noch einmal wieder?“ Nicolette hatte für sich entschieden, dass die Dame hübsch war, auch wenn sie nicht besonders oft lächelte. Und sie war nett. Nicolette hätte nichts dagegen, sie wiederzusehen – vor allem nicht, wenn sie wieder ein Geschenk mitbrachte.
„Das würde ich gern. Doch wenn dein Vater mich hier entdeckt, wird er sehr böse.“
„Leben Sie in diesem Viertel?“
„Nein.“
„Arbeiten Sie hier?“
„Nein!“
„Dann glaube ich nicht, dass ich Sie wiedersehen werde.“ Nicolette machte die Tür auf und stand auf.
„Darf ich dich umarmen?“, fragte die Frau. „Für deine Mutter?“
„Ich denke, ja.“
Sie streckte die Arme nach Nicolette aus und zog sie auf ihren Schoß, um sie an sich zu drücken. Nicolette war überrascht über die Innigkeit, aber sie schlang die Arme um den Hals der Frau und erwiderte die Umarmung.
„Vergiss nicht, dass du deinem Vater nichts davon erzählen darfst“, flüsterte die Frau. Sie steckte das Medaillon in Nicolettes Kleidchen, damit es nicht auf den ersten Blick zu sehen war.
„Ich mag Geheimnisse.“
„Auf Wiedersehen, mein Engel.“
Nicolette rutschte vom Schoß der Frau und sprang von der Kutsche auf den Boden. Sie rannte zu den Ställen. Doch ehe sie außer Sicht war, blieb sie stehen, drehte sich um und winkte. Die Frau war noch immer da. Und beobachtete sie.
20. KAPITEL
N icolette stand auf Zehenspitzen im Schrank und legte ihr Gesicht an die Wand, um durch das Loch spähen zu können. Als eine Schweißperle in ihr Auge rann, blinzelte sie, aber sie rührte sich nicht. Sie spürte, wie das Medaillon der Dame über ihre Brust strich.
Die Dame aus der Kutsche hatte sie bisher nicht wiedergesehen, doch die Kette mit dem Anhänger war noch immer ihr Geheimnis. In ihrem Zimmer hatte sie ein Versteck gefunden. Es war ein bisschen abgebröckelter Putz, ein kleines Loch, das sich hinter einem Stück abgelöster Tapete verbarg. Wenn sie ein Bad nehmen musste oder sie ihr Nachthemd trug, versteckte sie das Medaillon dort.
Jetzt fühlte es sich kühl auf ihrer Haut an, während ihr restlicher Körper heißer als ein Sommernachmittag war. In dem kleinen Wandschrank, in dem sie stand, wehte kein Lüftchen, und zwischen Florences ausladenden Kleidern erstickte sie beinahe.
„Kannst du schon was sehen?“, flüsterte Fanny.
„Schh …“ Nicolette kniff die Augen zusammen, damit sie den Raum nebenan schärfer sehen konnte. Die meisten Zimmer im Magnolia Palace hatten Kleiderschränke. Ein Wandschrank wie der, in dem sie stand, war ungewöhnlich. Und deshalb war es auch reizvoll, ihn zu erkunden. Fanny hatte das Guckloch zuerst entdeckt. Sie hatte in Flos Zimmer Staub gewischt und war in den Wandschrank gegangen, um ein Korsett wegzulegen.
Das Loch war vollkommen rund, als hätte es jemand mit Absicht dort hineingebohrt. Es befand sich hoch über ihren Köpfen, aber die Mädchen hatten das Problem gelöst, indem sie Hutschachteln gestapelt hatten, bis sie durch das Loch in Violets Zimmer blicken konnten. Jetzt wechselten sie sich ab.
Ein Mann war bei Violet. Nicolette konnte ihn sehen. Erwar weder besonders klein noch außergewöhnlich groß. Sein Haar war nicht dunkel oder hell, sondern irgendetwas dazwischen. Es gab nichts Interessantes an ihm zu entdecken – außer vielleicht die Art, wie er sich in dem Polstersessel zurücklehnte und zusah, wie Violet ihr Haar löste.
Nicolette wusste, dass Violet sich für diesen besonderen Mann immer viel Zeit nahm. Die anderen Frauen sagten, dass Violet einen Mann in ihre Tiefen locken und sich dann wie Stahl um ihn schließen konnte, bis sie auch den letzten Tropfen Leidenschaft aus ihm herausgepresst hatte. Und das alles in weniger als einer Minute. Doch dieser Mann kam regelmäßig, und von Violet selbst hatte Nicolette erfahren, dass er ihr gutes Geld bezahlte, damit sie sich eben nicht beeilte.
Nicolette wusste nicht, was die Frauen damit meinten, aber sie dachte, dass sie es vielleicht herausfinden würde, wenn sie nur lange genug auf den Hutschachteln stand.
Jetzt beobachtete sie, wie Violet die letzte Haarnadel entfernte. Goldenes Haar fiel ihr über die Schultern und bedeckte ihre nackten Brüste. Es reichte über ihren Rücken und die glatte Wölbung ihres Pos und schimmerte, als sie das Zimmer durchquerte.
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