Bis zur letzten Luge
dass die Austernschalen unter seinen Füßen nicht knirschten. Neben der hinteren Veranda, im Schatten einer Magnolie, beobachtete er seine Tochter beim Spielen.
Ihr Matrosenkleidchen flatterte gegen ihre nackten Knie, als sie von Baum zu Baum rannte und dabei vor Lachen schrie. Violet, die ihren Rock über die Knöchel hochgebunden hatte, jagte sie, und Tony Pete, der damit beschäftigt war, im Garten Unkraut zu jäten, schnappte ab und an spielerisch nach ihr, wenn sie vorbeirannte. Nicolettes Locken wehten ihr zerzaust um den Kopf, und sie war schmutzig.
Sie rannte ein paar Meter von ihm entfernt an dem Baum vorbei, unter dem er stand. Erst als sie ein gutes Stück an ihm vorbeigelaufen war, blieb sie stehen und drehte sich um, um ihn anzusehen. Er bemerkte, wie ihr Lachen erstarb und das Funkeln in ihren Augen verschwand. Stattdessen trat Angst an seine Stelle.
Er erinnerte sich an die Angst in den Augen eines Kindes, das Nicolette so ähnlich gewesen war. In dem Boot hatte Angelle Angst gehabt. Er erinnerte sich daran, wie sie sich an seine Mutter geklammert hatte, bis sie keine Kraft mehr gehabt hatte. Er schloss die Augen, doch er konnte Nicolette trotzdem sehen. Nicolette, die so viel Ähnlichkeit mit seiner geliebten Schwester hatte.
„Es tut mir leid, Mr Rafe.“
Er schlug die Augen auf und erblickte Violet, die vor ihm stand. Heute tat sie nicht so, als wäre sie ein kleines Mädchen – sie war ein kleines Mädchen. Viel zu jung, um in einem Bordell zu arbeiten. Viel zu jung, um schon zu lernen, wie oberflächlich und grausam die Welt sein konnte. „Geh ins Haus, und pack deine Sachen“, sagte er.
„Aber wir haben doch nur gespielt. Niemand hat sich über den Lärm beschwert.“
„Pack, und warte im Azaleen-Salon auf mich. Ich habe einen besseren Job für dich.“
Sie legte den Kopf schräg. Zum ersten Mal sah er, wie hübsch sie wirklich war. Er fragte sich, was in den kommenden Jahren am schwersten auf ihr lasten würde: ihre Schönheit, ihre Jahre im Palace oder der Tropfen farbigen Blutes, durch den sie in den Augen der weißen Gesellschaft weniger wert war als ein anderer Mensch.
Sie schien sich eines Besseren zu besinnen und fragte nicht nach. Sie sah Nicolette an und machte sich dann auf den Weg ins Haus. Nicolette näherte sich ihm langsam. Sie scharrte mit den Zehen über den Boden, als sie schließlich vor ihm stand. „Bitte, schick Violet nicht weg“, flehte sie. „Ich bleibe auch für immer in meinem Zimmer, wenn du sie nur nicht wegschickst.“
„Sieh mich an!“
Sie gehorchte, und er konnte sehen, wie viel Mut es sie kostete. Trotz flackerte in ihrem Blick – wie der letzte Widerstandeines Tieres, das in die Ecke gedrängt worden war.
Er hockte sich vor sie, damit sie sich von Angesicht zu Angesicht anblicken konnten. Aus dieser Perspektive sah die Welt ganz anders aus. Zum ersten Mal seit vielen Jahren erinnerte er sich daran, wie die Welt ausgesehen hatte, als er noch ein Junge gewesen war.
„Du kannst hier nicht mehr leben, Nicolette. Es ist einfach nicht richtig. Ich habe in der Nähe der Canal Street ein Haus, dort werde ich dich hinbringen. Ich werde Violet fragen, ob sie mitkommt und sich um dich kümmert. Würde dir das gefallen?“
Das Mädchen runzelte die Stirn. Schon jetzt suchte sie nach dem Haken an allem, was man ihr sagte. „Violet darf mitkommen?“
„Ja. Wenn sie möchte.“
„Werden die Männer sie dort besuchen?“
„Es werden keine Männer zu Besuch kommen.“
„Was ist das für ein Haus?“
„Ein hübsches kleines Haus.“ Ihm fiel nicht mehr ein. Er wusste nicht, wie er mit ihr reden sollte. „Nur Violet und ich?“
„Nein. Ich werde auch dort wohnen.“
Sie kniff ganz leicht die Augen zusammen. „Und die Herzogin?“
„Die nicht.“
„Und Clarence?“
Er schüttelte den Kopf. „Clarence kann dich besuchen kommen.“
„Dann brauchen wir ein Klavier.“ Sie kam etwas näher. „Wir werden ein Klavier kaufen. Es wird Zeit, dass du Unterricht bekommst.“
„Unterricht?“
„Ja. Musikunterricht. Und du brauchst eine Lehrerin. Du musst doch lernen, wie man liest, oder?“
„Ich lese schon. Ich würde lieber in die Schule gehen.“
„Vielleicht.“
Sie starrte auf ihre Füße. „Ich werde brav sein.“
„Nein, das wirst du nicht. Du wirst rennen und schreien und alles tun, was dir gefällt, sobald ich mich umgedreht habe.“
„Nur manchmal.“
Er lachte leise. Er wusste nicht, woher es gekommen war. Er hatte
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