Bis zur letzten Luge
Valentine.“
„Und früher war ihr Name Clarissa.“
„Sie hatten nicht das Recht, ihr einen Namen zu geben!“ Es überraschte Aurore nicht, dass der Schmerz ein halbes Jahrhundert lang schlummern konnte, um sie jetzt wieder zu quälen. Die Stimme war die Stimme von Rafe. Und auch das Gefühl war dasselbe.
„Wenn ich mir sicher wäre, dass es gut für deine Mutter wäre, es zu wissen, hätte ich es ihr selbst gesagt. Aber ich weiß gar nichts mehr mit Sicherheit – nur, dass du den Rest der Geschichte hören musst.“
„Sie machen das hier, um Ihr Gewissen zu beruhigen, nicht wahr? Eine Beichte ist gut für die Seele, nicht wahr? Tja, vielleicht ist es gut für Ihre Seele, doch für meine ist es das nicht.“ Ungeduldig nahm er das Tonbandgerät vom Tisch und riss dabei den Stecker aus der Steckdose. Er war schon fast an der Tür, als sie eine letzte Bitte aussprach.
„Und wenn du es deiner Mutter eines Tages erzählst, Phillip, was wirst du ihr dann sagen? Einen Teil der Geschichte? Wird sie das zufriedenstellen? Oder wird sie alles wissen wollen?“
„Wenn sie mehr hören will, kann sie selbst zu Ihnen kommen.“
„Ich werde dann nicht mehr hier sein. Ich sterbe, Phillip. Die Ärzte sagen, dass ich vielleicht noch sechs Monate habe. Vielleicht auch nicht. Und am Ende gibt es keine Garantie, dass ich noch klar denken oder meine Gedanken ausdrücken kann.“
„Also ist das hier sozusagen eine Beichte auf dem Sterbebett – eine vorgezogene?“
„Es ist keine Beichte. Ich versuche nicht, meine Seele reinzuwaschen, bevor ich sterbe. Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, werde ich meine Strafe gern auf mich nehmen. Aber ich sehe keinen Grund, warum ich die, die nach mir kommen, bestrafen soll. Denn ich weiß Dinge, die das Leben meiner Kinder und meiner Kindeskinder verändern können. Meinganzes Leben lang war ich ein fürchterlicher Feigling. Das hier ist mein letzter Versuch, mutig zu sein.“
Er drehte sich nicht um, doch er blieb stehen, als würde er über ihre Worte nachdenken. Sie nahm an, dass sie nicht mehr erwarten konnte.
„Bitte, komm wieder. Wenn du dazu bereit bist“, fügte sie nach einer Weile hinzu.
Phillip war schon seit einer ganzen Weile verschwunden, als sie sich schließlich erhob und ans Fenster trat. Sie sah wie Phillip in die Ferne hinaus. Die Zweige einer Kreppmyrte wiegten sich im Wind, und ein Lieferwagen fuhr die Seitenstraße entlang.
Es waren die kleinen Dinge, die das Sterben so schwer machten. Die Art, wie Sprenkel von Sonnenlicht durch das dichte Blattwerk der Virginia-Eichen auf das Gras fielen. Blauhäher, die auf Telefonmasten rasteten und zwitscherten. Luft, die so warm und weich wie Samt war.
Phillip würde wiederkommen. Er war ein Mann, dem es im Leben um Antworten ging. Diese Leidenschaft, dieser Drang, die Wahrheit herauszufinden, würde ihn jetzt nicht verlassen. Sie dachte an Rafe, den Mann, der genauso intelligent, genauso begabt wie sein Enkelsohn gewesen war. Sie wünschte sich von Herzen, Phillip hätte ihn kennenlernen können.
Sie war eine Frau, die östliche Religionen studieren und am selben Tag zur Messe gehen konnte, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Vor Jahren hatte sie die Vorstellung der Wiedergeburt für sich entdeckt. Sie hatte sich ausgemalt, dass sie in einem anderen Körper wiedergeboren werden würde. Sie hatte sich ausgemalt, Rafe wiederzufinden, ihn zu heiraten und trotz aller Hindernisse stolz seine Kinder zu bekommen.
Dann hatte sie herausgefunden, dass diejenigen, die an die Wiedergeburt glaubten, auch glaubten, dass die Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen wiedergeboren wurden.
Demnach war es also möglich, dass sie bis in alle Ewigkeit ein Feigling blieb.
Der Traum der Wiedergeburt war vergangen, aber die Vorstellung ihrer eigenen Feigheit nicht. Sie konnte Rafe nicht wieder zum Leben erwecken. Sie konnte mit ihm nicht noch einmal von vorn beginnen, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte. Doch sie konnte in der Zeit, die ihr noch blieb, handeln und die Fehler, die sie begangen hatte, wiedergutmachen.
Das konnte sie für Rafe und für sich selbst tun – egal, wer oder was sie erwartete, wenn sie die Augen zum letzten Mal schloss.
Belinda trug Rot. Ein Rot, so lebhaft und pur, dass es ihrer Haut einen ganz besonderen Schimmer verlieh. Das Kleid war gerade eng und der Ausschnitt tief genug, um das Bild von Miss Beauclaire, der Kindergärtnerin, zu vertreiben. Ihre langen Beine steckten in einer
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