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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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Schritte, bevor sie ihn erblickte. Als sie aufsah, stand er einige Meter von ihr entfernt und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
    Vor einigen Wochen, am Tag nachdem er erfahren hatte, wer sie wirklich war, hatte er die Stadt verlassen. Sie wusste, dass er auf der Jagd nach neuen Geschichten in New York und Kalifornien gewesen war. In New Orleans blieb kaum etwas ein Geheimnis, und es gab so gut wie nichts, das Aurore nicht herausfinden konnte, wenn sie die richtigen Leute fragte. Sie war nicht überrascht gewesen. Sie hatte damit gerechnet, dass Phillip fortgehen würde. Und sie hatte damit gerechnet, dass er zurückkommen würde.
    „Was hat dich dazu bewogen, zurückzukehren?“, fragte sie. „Die Neugierde eines Journalisten? Die Verpflichtung deiner Mutter gegenüber?“ Ihre letzte Vermutung sprach sie nicht laut aus. War er vielleicht von einer jungen Frau namens Belinda Beauclaire beeinflusst worden, die einfach zu perfekt war, um sie zurückzulassen?
    „Sie haben gewonnen. Genau wie Sie es erwartet haben.“ Sie klopfte auf die Bank neben sich. Langsam kam er zu ihr und setzte sich zögerlich hin. „In meinem Alter und meinem Zustand darf ich mir den einen oder anderen Fehler erlauben. Entschuldige, dass ich so selbstgefällig bin.“
    „Sterben Sie wirklich? Oder war es nur eine Ausrede, damit ich wiederkomme?“
    Aurore antwortete ihm nicht direkt. Mit der Spitze ihres Gehstocks deutete sie auf die Azaleen. „Ich sollte die Blumen umpflanzen lassen. Im Sommer brauchen sie Schutz, aber ich wollte sie so gern noch einmal blühen sehen.“
    „Sie haben gesagt, Sie hätten wahrscheinlich noch sechs Monate.“
    „Ich würde gern noch bis zum Sommer leben“, sagte sie. „Die meisten Menschen würden lieber sterben, als die Hitze und Luftfeuchtigkeit hier aushalten zu müssen.“
    „Ich werde es vermissen, diese dampfige Luft zu atmen.“ Sie lächelte. „Ich vermute, ich werde das Atmen generell vermissen.“
    „Haben Sie Schmerzen?“
    „Zum Glück kaum. Doch ich spüre, dass der Tod näher kommt. Ich schlafe weniger, esse weniger. Wenn ich mich bewege, fühlt es sich wie damals an, als ich noch ein kleines Mädchen war, in den Golf hinausgelaufen bin und das Wasser bei jedem Schritt an meinen Füßen gezerrt hat.“
    „Das bedeutet alles nicht, dass der Tod um die Ecke lauert.“
    „Wenn ich schlafe, kommen mich diejenigen besuchen, die schon von uns gegangen sind. Ich träume von ihnen, und wenn ich aufwache, sind sie immer noch da.“
    „Ihr Mann?“
    Sie schüttelte den Kopf. „Henry nie.“
    „Nach allem, was Sie mir erzählt haben, sind Sie vermutlich dankbar, dass es so ist.“
    Wieder lächelte sie, aber es war ein trauriges Lächeln. „Vielleicht ist Henry jetzt an einem Ort, an dem es keine Besuchszeiten gibt.“
    „Die Ehe ist nie besser geworden?“
    „Du hörst dich allmählich wieder wie ein Journalist an, Phillip. Heißt das, dass du mir zuhören wirst?“
    „Wenn ich Ihre Lebensgeschichte aufschreibe, werde ich schreiben, dass Sie eine alte Dame waren, die immer bekommen hat, was sie wollte – egal, wen sie manipulieren musste, und egal, was sie dafür zu tun hatte.“
    Sie schwieg einen Moment lang und dachte über seine Worte nach. Irgendwie gefiel ihr der Klang. „Und wirst du auch schreiben, dass ich eine alte Dame war, die getan hat, was sie für das Beste hielt, auch wenn es leichter gewesen wäre, die letzten Tage des Lebens damit zu verbringen, Goldfische und Kröten zu beobachten?“
    „Ich weiß es nicht.“
    Sie nahm den Gehstock und erhob sich. Es fiel ihr immer schwerer, zu gehen und zu stehen. Sie war angewidert von ihrem eigenen Körper, der sie so schmählich und vollkommen im Stich ließ. „Geh ein paar Schritt mit mir, Phillip.“
    Er war bereits aufgestanden. „Ich habe mein Tonbandgerät nicht dabei.“
    „Oh, ich denke, du wirst nicht vergessen, was ich dir erzählen werde.“
    „Ich weiß schon, dass es kein Happy End gibt, auf das man sich freuen kann.“
    „Vielleicht nicht für mich – jedenfalls nicht so, wie du denkst. Doch für alles, was im Leben passiert, gibt es einen Ausgleich.“
    „Ist das so?“
    Sie streckte die Hand aus. „Darf ich mich auf dich stützen?“
    Er zögerte. Sie konnte sehen, wie er mit sich kämpfte;dann zuckte er die Achseln. Er trat näher zu ihr. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
    Als sie darüber nachdachte, wie sie beginnen sollte, betrachtete sie die Azaleen am Ende des Gartenweges. Sie blühten,

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