Bis zur letzten Luge
gedeihen.
Genau das tat Hugh. Er war ein stilles Kind, das über jede neue Erfahrung erst einmal nachdachte und sie einordnete. Die Rosen liebte Hugh besonders. Ohne ihn entschied Aurore nie, mit welchen Blumen das Haus geschmückt werden sollte. Der Junge war so süß und ganz ernst bei der Sache. Er wägte das Für und Wider seiner Wahl mit demselben Eifer ab wie ein Theologe, der ein Urteil über den Sündenfall fällen wollte. Er zeigte auf die jeweilige Blume; Aurore schnitt sie dann ab, entfernte die Dornen und gab ihm die Rosen, die er in sein kleines Strohkörbchen legte. Auch im Haus wich er ihr nicht von der Seite und half ihr beim Arrangieren der Sträuße.
An den heißesten Sommertagen und im Herbst blühten nur wenige Blumen, und Hugh zeigte wenig Interesse an ihnen. An einem Vormittag im Oktober spielte er daher im Schatten einer Magnolie und warf seinem Spaniel einen Ball zu. Aurore hatte ihm den Hund geschenkt, nachdem ihr klar geworden war, dass er vielleicht nie einen Bruder oder eine Schwester zum Spielen bekommen würde.
Sie wollte noch mehr Kinder. Ihre Periode setzte so regelmäßig ein wie das Zunehmen und das Abnehmen des Mondes. Und auch wenn Henry diesen Verdacht oft äußerte, hatte sie nie heimlich versucht, eine weitere Schwangerschaft zu verhindern. Doch obwohl Henry regelmäßig mit ihr schlief, wurde sie nicht schwanger.
Nicolette war inzwischen zehn. Das Mädchen war Aurore so fern, dass ihr die Geburt ihrer Tochter manchmal wie ein Traum vorkam. Ihr Leben drehte sich um Hugh, und er machte ihr Freude. Natürlich konnte sie nicht ein Kind durch ein anderesersetzen. Trotzdem war Aurore sich bewusst, dass sie viel mehr zu geben hatte und ihre Liebe nicht auf ein Kind konzentrieren sollte. Vor ihrem inneren Auge sah sie schon jetzt, wie schwer Hugh die Trennung von ihr fallen würde, wenn die Zeit reif war. Und so schlecht Henry als Vater auch war, hatte er in einem Punkt doch recht: Immer wieder kritisierte er sie dafür, dass sie ihren Sohn so streng behütete und von allem abschirmte. Hugh musste heranwachsen und sich entfalten können, und sie musste ihm den nötigen Raum dazu lassen.
„Mamere.“ Gelangweilt vom Spiel, kletterte Hugh auf ihren Schoß.
Sie drückte ihn an sich. „Hast du schon genug von Floppsy?“
„Ich will malen.“
Obwohl der Himmel strahlend blau war, schien der Regen, der zuvor gefallen war, noch immer in der Luft zu hängen. Aurore verstand, dass ihr Sohn lieber ins Haus gehen wollte, und gab der Kinderfrau ein Zeichen. Marta war eine stämmige Witwe mit grauem Haar, deren verstorbener Ehemann bei Gulf Coast Kapitän auf einem Frachtkahn gewesen war. Aurore hatte sie eingestellt, nachdem Cleo zu einer ihrer Schwestern gezogen war. Marta besaß eine nahezu endlose Geduld, und obwohl sie hohe Ansprüche stellte, waren ihre Erwartungen realistisch.
Aurore sah zu, wie Marta Hugh ins Haus brachte. Marta behandelte den Jungen nie wie ein Kind. Sie brachte ihm Deutsch bei – trotz der landläufigen Ablehnung alles Deutschen –, während Aurore in seiner Gegenwart oft französisch sprach. Hugh erlernte die Sprachen mühelos. Seinem Vater gegenüber hielt er sich allerdings zurück, denn Henry machte sich über das Sprachtalent seines Sohnes nur lustig.
„Ro-Ro.“
Als sie plötzlich Ti’Boos Stimme vernahm, drehte sie sich um und ging ihrer Freundin im Garten entgegen, um sie zubegrüßen. Ti’Boo hatte ihren jüngsten Sohn Val dabei, der nur ein Jahr älter war als Hugh und bereits genau wie sein Vater aussah. Val rannte hinter Hugh und Marta her, und die Frauen blieben allein im Garten zurück.
„Ich bin so froh, dass du ihn mitgebracht hast. Hugh braucht einen Freund. Trinkst du eine Tasse mit?“ Aurore führte Ti’Boo zu einem Tisch unter den Bäumen. „Ich hole uns frischen Kaffee.“
„Nein. Setz dich. Ich hatte heute schon drei Tassen, und bei der Hitze wird mir davon bloß noch heißer.“
Im Laufe der Jahre war Ti’Boo deutlich rundlicher geworden. In dem weißen Kleid mit den Streifen am Saum sah sie heute jedoch frisch wie der junge Morgen aus. Die Fähigkeiten, die sie als Kind erlernt hatte, zahlten sich nun, da das Land sich im Krieg befand, für sie aus. Aus Kostengründen musste oft auf Fleisch verzichtet werden, doch das genügte noch nicht. Von sämtlichen Landbesitzern wurde außerdem erwartet, sich selbst zu versorgen, Obst und Gemüse anzubauen und einzukochen. Deshalb lehrte Ti’Boo die Frauen aus der Stadt, die
Weitere Kostenlose Bücher