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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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Caminada. Selbst wenn dort heute niemand mehr lebt außer den Geistern.“
    In dem Moment ertönte die Glocke und markierte den feierlichen Beginn der Zeremonie. Überrascht stellte Aurore fest, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen waren. Sie rührte sich nicht, als sie dasselbe Läuten hörte, das damals so viele Menschen in den Tod begleitet hatte.
    Sie erinnerte sich daran, dass Lucien diesen Klang nie ertragen hatte. Er hatte sein Büro wie eine Festung errichtet – fern vom Fluss und seinen Geräuschen.
    Die Frau neben ihr gab einen leisen Schrei von sich und schlug die Hand vor den Mund. Aurore folgte ihrem Blick und entdeckte einen Priester mit einem langen weißen Bart. Nicht weit von ihnen hatte er den Vorplatz betreten. Sie beobachtete, wie er sich beim Glockenschlag die Ohren zuhielt und auf die Knie fiel.
    „Ma cloche! Le même son!“, rief er.
    „Derselbe Klang“, flüsterte Aurore.
    Pater Grimaud blieb auf dem Kirchplatz knien und weinte.
    Rafe wusste nicht, weshalb Aurore zur Einweihung der Kirche erschienen war. Andererseits war er sich nicht einmal sicher,was er selbst hier tat. In einer Zeitung hatte er einen kurzen Bericht über die Kirche der Heiligen Madonna gelesen. Unwillkürlich waren Bilder einer weißen Kirche, zu der er sich hatte durchkämpfen wollen, vor seinem inneren Auge aufgetaucht und hatten ihn überwältigt. Die Erinnerungen hatten es ihm beinahe unmöglich gemacht, sich darauf zu konzentrieren, weiterhin den engen Grat zu beschreiten, der sein Leben in New Orleans erträglich machte.
    Eigentlich war er nicht sentimental. Doch nachdem er den Artikel gelesen hatte, war ihm sein Leben nicht mehr wie sein eigenes vorgekommen. Er hatte sich entschlossen, auf die Grand Isle zu reisen, und Violet beauftragt, während seiner Abwesenheit auf Nicolette aufzupassen. Und er hatte seinen Anwalt angewiesen, sämtliche Geschäftsangelegenheiten aufzuschieben.
    Da seine Anwälte stets als Mittelsmänner fungierten, wusste niemand in der Stadt, wie vermögend Rafe wirklich war und was für einen ausgezeichneten Geschäftssinn er besaß. Selbst die Schließung von Storyville hatte ihm nichts anhaben können. Er hatte seine Anteile dort rechtzeitig verkauft, bevor das Geschäft in dem Viertel abgeflaut war. Seine Rolle als Besitzer eines Freudenhauses war ihm längst zuwider gewesen. Dass das Bordell sonst von weitaus schlimmeren Männern – Männern ohne jegliche Prinzipien – geführt worden wäre, hatte ihm als Rechtfertigung nicht mehr gereicht. Er hatte die Rolle als Bordellbesitzer nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren können. Ihm war klar geworden, dass er ein besserer Mensch war, als er vermutet hätte.
    Als die Navy sich schließlich mit ihren Forderungen eingeschaltet hatte, war der Palace – der inzwischen zu einem zweitklassigen Wohnheim umfunktioniert worden war – längst nicht mehr Rafes Problem gewesen. Er besaß Grundstücke im Geschäftsviertel, die ihm ein direktes Einkommen verschafften. Außerdem gehörten ihm weite Strecken desSumpflandes außerhalb der Stadt. Er war sich sicher, dass durch den technischen Fortschritt der Sumpf irgendwann trockengelegt werden und die Stadt sich vergrößern würde. Rafe war reich genug, um ein behagliches Leben zu führen – oder zumindest ein Leben, das so behaglich war, wie es für einen Farbigen sein konnte.
    Rafe konnte sich nicht daran erinnern, zu welchem Zeitpunkt er sich selbst endlich angenommen hatte. Vielleicht hatte Aurores Zurückweisung dazu beigetragen. Jedenfalls hatte er kurz darauf erkannt, dass er den Vater, den er nie gekannt hatte, nicht verleugnen konnte – ebenso wenig wie seine Mutter und die Bedingungen des Lebens, das sie hatte führen müssen. Juan hatte ihm versichert, dass sein Vater ein guter Mensch gewesen sei. Rafe wusste, dass seine Mutter ebenfalls gut gewesen war. Das Blut zweier Rassen rann durch seine Adern. Auf das Erbe seiner Eltern konnte er stolz sein.
    Doch Stolz machte einsam, und darum verbarg er ihn gut vor der Außenwelt. Er zog sich zurück und wickelte viele seiner Geschäfte über seinen Anwalt und Buchhalter ab. Er gab keine Erklärungen zu seinem Stammbaum ab, doch in der Stadt lebte er unter den gens de couleur, und die Nähe zu den Farbigen machte auch ihn zu einem Verdammten. Aber er suchte nicht nach Akzeptanz; Akzeptanz war ihm von jeher versagt geblieben. Er suchte auch nicht nach Respekt oder Freundschaft. Er erwachte jeden Morgen mit demselben Ziel: den Tag zu

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