Bis zur letzten Luge
gesamte Gebäude; offenbar hatte seit Langem niemand versucht, dasSchloss zu öffnen. Aurore erinnerte sich daran, wie sicher sie sich innerhalb dieser vier Wände gefühlt hatte, wie freundlich und einladend ihr die gemütlichen Räumlichkeiten vorgekommen waren. Man hatte sie damals in eine Steppdecke eingehüllt, ihr Suppe und Tee gebracht und im melodiösen Französisch der Cajuns Geschichten erzählt, während draußen der Sturm gewütet hatte.
Jetzt war das Haus still und verlassen. Die Zeiten, in denen es von Nutzen war, waren offensichtlich vorbei. Sie vermutete, dass irgendjemand es bald abreißen und durch einen Bau ersetzen würde, der wahrscheinlich beim ersten stärkeren Sturm zusammenbrechen würde.
In dieser Nacht schlief sie unruhig. Die Umgebung und die Atmosphäre auf der Insel hatten sie ganz sanft dazu gebracht, ihr Misstrauen abzulegen, die Schutzmauern einzureißen, hinter denen sie sich verborgen hatte. Nun stahlen sich Bilder in ihre Träume, schoben sich in ihr Bewusstsein. Zum ersten Mal überlegte sie, ob ihr Leben etwas anderes sein konnte als ein Kampf. Sie konnte ihre Ehe nicht aufgeben, weil sie mit Sicherheit dabei ihren Sohn verlieren würde. Hugh und Gulf Coast bedeuteten ihr alles, und sie konnte sie unmöglich Henry überlassen, der beides zerstören würde. Aber vielleicht gab es andere Wege, um ihre Menschlichkeit zurückzugewinnen. Tief verborgen in ihrem Innern wohnte noch immer das kleine Kind, das bei Krantz herumgetollt war und gelacht hatte. Das Kind, das Glück im Leben für möglich gehalten hatte.
Am folgenden Nachmittag machte Aurore sich bereit für die Kirchweihe. Die Kirche war auf dem höchsten Punkt der Insel erbaut worden, kaum mehr als eine halbe Meile von Cleberts Hütte entfernt. Erzbischof Shaw und andere Würdenträger waren eigens angereist. Auf dem Vorplatz warteten Kinder mit leuchtenden Augen auf die Zeremonie. Die weiße Kirche verfügte über hohe bogenförmige Fenster und einenrunden Glockenturm im anmutigen maurischen Baustil.
Während ihrer Sommer bei Krantz hatte ihre Mutter sich stets nach einer Kirche an diesem Ort gesehnt. Erst nach ihrem Tod war dieser Wunsch in Erfüllung gegangen.
„Kennen Sie die Geschichte der Glocke?“ Auf dem Vorplatz trat eine Frau zu Aurore. Sie trug ein schlecht sitzendes blaues Sommerkleid und blickte hinauf zum Turm.
Aurore war glücklich über die Gelegenheit, ihr eigenes Schweigen zu brechen. „Nein.“
„Sie haben die Piratenglocke von der Chénière hier aufgehängt.“
„Die Piratenglocke?“
„Oui , chère . Sie ist aus Dublonen und eingeschmolzenem Piratengold gemacht. Haben Sie nie davon gehört?“ Die Augen der Frau funkelten, als sie die Chance witterte, die ganze Geschichte erzählen zu können. Als Aurore den Kopf schüttelte, begann sie: „Damals, im Jahr 1893, hat es hier einen furchtbaren Sturm gegeben.“ Zur Untermalung breitete die Fremde die Arme aus.
Beinahe augenblicklich fühlte Aurore sich der Frau verbunden. Sie sprach mit dem leichten Akzent der Cajuns, der Aurore an Ti’Boo erinnerte. „Ich bin dabei gewesen.“
Die Frau schnalzte mit der Zunge, als wären sie Verbündete. „Ich selbst habe am Bayou gelebt. Die Flut stieg so hoch, dass wir für ein paar Wochen auf einem Boot leben mussten, bis das Wasser zurückgegangen war. Aber wir haben trotzdem Glück gehabt. Die Leute auf Chénière Caminada … die meisten von ihnen sind umgekommen. Und während sie starben, läutete unentwegt diese Glocke.“
„Genau diese Glocke?“
„Sie war jahrelang vergraben. Nach dem Sturm hat irgendwer sie im Sand gefunden. Es gab einen Streit darüber, wem sie rechtmäßig gehörte. Man konnte sich nicht einigen. Die Kirche gab es ja nicht mehr, deshalb wollten einige die Glockezu einer anderen Kirche bringen, die ziemlich weit entfernt war. Doch bevor sie sie wegbringen konnten, verschwand die Glocke. Einfach so.“ Die Frau schnippte mit den Fingern.
„Und wo war sie?“
„Einige Überlebende des Sturms hatten sie mitgenommen und auf einem Friedhof in Westwego vergraben. Und die Glocke wäre noch heute da, wenn diese Kirche hier nicht gebaut worden wäre. Doch als die Zeit gekommen war, haben die Menschen von der Insel die richtigen Leute gebeten, die Glocke zurückzubringen. Und die haben zugestimmt. Sehen Sie? Die Glocke ist Teil unserer Geschichte. Niemand sonst hat einen Anspruch darauf. Und wann immer sie läutet, erklingt sie auch für unsere Schwesterinsel Chénière
Weitere Kostenlose Bücher