Bis zur letzten Luge
Hoffnung auf Rettung, das Seil, losgelassen. Das Boot war fortgerissen worden, unaufhaltsam auf den sicheren Tod zugetrieben. Wenn Rafe tatsächlich Raphael war … Sosehr sie ihn auch hasste – wie konnte sie annehmen, dass er nicht genau wie sie auf der Suche nach Frieden war?
Es gab noch so viele unbeantwortete Fragen. Sie war bereits auf halbem Weg zum Strand, ehe sie bemerkte, dass sie losgegangen war. Das Gästehäuschen konnte sie im Momentgenauso wenig ertragen wie ihre eigenen Gedanken. Sie wollte sich Rafe nicht als verängstigtes Kind vorstellen; sie wollte nicht daran denken, dass ihr Vater ein Feigling gewesen war. Vor allem wollte sie Rafe Cantrelle nicht vergeben, was er ihr angetan hatte.
Die Wellen plätscherten beinahe geräuschlos ans Ufer. Der Mond stand tief am dunkler werdenden Himmel und tauchte das Wasser in silbriges Licht. Sie hätte nicht herkommen sollen. Heute Nacht würde diese Umgebung keine schönen Kindheitserinnerungen wachrufen. Trotz der milden Brandung sah sie Wellen so hoch wie Eichen vor sich. Sie vernahm die Schreie von Kindern. Als sie die Hände vors Gesicht schlug, wurden die Bilder nur noch grauenhafter.
Aus dem Schatten einer Düne erklang mit einem Mal eine Stimme. „Meine Schwester starb zuerst, meine Mutter kurz darauf. Ich wollte ihnen hinterherspringen, aber ich hatte solche Angst … Ich klammerte mich so am Boot fest, dass meine Finger sich nicht mehr davon lösten …“
Sie ließ die Hände sinken und blickte Rafe an, der aus dem Schatten trat. „Wer bist du?“ Sie ging auf ihn zu und blieb nur wenige Zentimeter vor ihm stehen. „Wer bist du?“
„Ich bin ein Geist. Zumindest hat dein Vater das vor zehn Jahren geglaubt, als ich ihm gesagt habe, ich wäre von den Toten zurückgekehrt.“
„Also bist du wirklich Raphael?“
Er zog eine Braue hoch. „Das war ich.“
„Bist du mir hierher gefolgt?“
„Ich hatte meine eigenen Gründe hierherzukommen.“ „Was sind das für Gründe?“
„Warum sollte ich dir das erzählen?“ Er wandte sich um und wollte gehen.
„Nein!“ Sie rannte ihm hinterher und packte ihn am Arm. „Ich weiß, was mein Vater getan hat. Heute hat Pater Grimaud mir die Briefe gegeben, die mein Vater ihm geschrieben hat.“Er blieb stehen. Sie spürte, wie sich die Muskeln in seinem Arm anspannten. „Briefe“, gab er zurück. „In denen die Wahrheit steht, nehme ich an.“
„Er schrieb, dass er ein Boot mit drei Überlebenden hinter sich hergezogen hätte. Dass er das Seil loslassen musste, kurz bevor er das Pfarrhaus erreichte.“
Im Mondlicht wirkte seine Miene undurchdringlich. „Hat er auch verraten, wer die Menschen auf dem Boot waren?“
„Er hat einige Namen genannt.“
Ohne Vorwarnung ergriff er ihre Schultern. „Hat er verraten, wer wir waren? Wie er zu uns stand?“
Sie versuchte sich ein Stück von ihm zu entfernen, doch er ließ nicht locker. „Lass mich los, Rafe!“
„Oder was? Schreist du dann? Tu das ruhig. Bring das alles jetzt zu Ende. Schrei! Und falls dich jemand hört, erzähl ihm, dass ein farbiger Mann es gewagt hat, dich zu berühren. Dann bekommst du deine Rache hier und jetzt!“
„Wie stand er zu euch?“, stieß sie hervor.
„Mich hat er verachtet! Aber meine Mutter war seine Geliebte, und meine Schwester war seine Tochter. Angelle war meine Schwester – und deine!“
Ihr wurde schwindelig. „Nein. Du lügst.“
„Ach ja? Glaubst du im Ernst, ich hätte meine Zeit damit verschwendet, einen Mann zu hassen, bloß weil er nicht genug Mut besessen hat, unser Boot in Sicherheit zu bringen? Hältst du mich für so dumm?“ Er stieß sie von sich, drehte sich um und ging davon.
„Du lügst!“ Er lief weiter.
Sie war hin- und hergerissen. Sollte sie zu ihrer Unterkunft zurückkehren? Oder sollte sie ihm nachlaufen? Bevor sie bewusst eine Entscheidung gefällt hatte, war sie bereits an seiner Seite. „Warum sagst du solche Sachen?“
„Ich hätte es dir schon vor Jahren erzählt, wenn du nurzugehört hättest.“
„Warum sollte ich dir glauben?“
Er hielt inne. „Dein Vater hat meiner Mutter für ihre Zuneigung Geschenke gemacht. Ich denke nicht, dass sie ihn geliebt hat. Aber sie hat ihre Kinder vergöttert. Anscheinend sah sie in Lucien einen Weg aus der Armut – und aus der Schande, die meine Geburt über sie gebracht hat. Ich glaube, sie hat gehofft, dass er uns eines Tages von Chénière Caminada wegbringen würde.“
„Und das Kind, mit dem sie schwanger war? War
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