Bis zur letzten Luge
diesen Moment war sie frei. „Für den Fall meines Todes möchte ich sichergehen, dass Nicolette gut versorgt ist.“
„Nach allem, was Sie mir erzählt haben, ist Nicolettes Vater ein wohlhabender Mann. Worüber machen Sie sich Sorgen, Aurore?“
Sie bemerkte, dass er sie mit dem Vornamen ansprach. Ihr wurde bewusst, was daraus folgte. Mit ihrem Geständnis hatte sie sich im Grunde mehr erhofft als rechtlichen Beistand. Sie hatte sich erhofft, dass er ihre Geschichte akzeptieren und einfach hinnehmen würde, was geschehen war – auch wenn sie dieses Verständnis eigentlich nicht verdiente. Und er hatte ihr soeben ein deutliches Zeichen gegeben, dass er genau das tat. „Rafe Cantrelle ist nicht vertrauenswürdig. Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, wenn Nicolette älter wird. Ich will sicher sein, dass sie versorgt ist, damit sie unabhängig sein und ein selbstständiges Leben führen kann.“
„Aber nur, wenn Sie sterben?“
„Ich weiß nicht, was ich für sie tun kann, solange ich am Leben bin.“
„Befürchten Sie, dass Sie bald sterben könnten?“
Mit einem Mal wurde ihr kalt. „Die Möglichkeit besteht immer.“
Er beugte sich zu ihr hinüber. „Befürchten Sie, dass Sie durch die Hand Ihres Ehemanns zu Tode kommen könnten?“
Sie schauderte. „Nein, natürlich nicht.“
„Sie könnten sich von ihm scheiden lassen“, schlug Spencer vor.
„Auf keinen Fall! Er würde meine Vergangenheit in der Öffentlichkeit breittreten und mir meinen Sohn wegnehmen. Ich kann ihn unmöglich verlassen.“
Sein Blick war warmherzig, doch hinter der Freundlichkeit in seinen Augen war auch Stärke zu erkennen. „Weiß Mr Gerritsen, dass Sie hier sind?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich denke, Sie sollten es ihm erzählen.“
„Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wozu er fähig wäre, wenn er erfahren würde, dass ich jemandem die Wahrheit über meine Vergangenheit verraten habe.“
„Es könnte ihn dazu bringen, darüber nachzudenken.“
„Warum?“
„Weil von diesem Moment an eines feststeht: Sollte Ihnen tatsächlich etwas zustoßen, werden die Behörden sich nicht mehr mit einfachen Antworten auf ihre Fragen zufriedengeben.“
„Henry ist schon jetzt sehr mächtig, und sein Einfluss nimmt ständig zu. Niemand würde Ihnen zuhören.“
„In dieser Stadt kann ein Mann am einen Tag über große Macht verfügen und am nächsten plötzlich ohne Freunde dastehen. Ich habe Geduld. Ich kann warten. Sagen Sie ihm das.“ Er erhob sich. „Bei unserem nächsten Treffen setzen wir Ihr Testament auf. Bis dahin möchte ich, dass Sie sorgfältig darüber nachdenken, wie Ihr Letzter Wille formuliert sein soll. Nur Sie selbst können entscheiden, wie viel Sie darin über Ihre wahre Verbindung zu Nicolette preisgeben wollen. Schließlich müssen Sie dabei auch Rücksicht auf Hugh nehmen.“
„Ich werde Hugh einen Brief hinterlassen. Als meine Mutter gestorben ist, hätte ich mir so etwas gewünscht – einen Brief, ein paar persönliche Worte im Testament. Irgendetwas von ihr.“
„Gab es denn ein Testament?“
„Nein. Am Schluss hat sie nichts mehr besessen, was sie hätte vererben können. Ich habe für ihre Pflege bezahlt.“ „Haben Sie mal über eine Gedenkfeier nachgedacht?“
Sie griff nach ihren Handschuhen. „Es kommt mir falsch vor, einem so traurigen Leben ein Denkmal zu setzen.“
„Gab es nie glückliche Zeiten?“
Sie erinnerte sich an einige flüchtige, entspannte Tage vollerSonnenschein. „Mir fällt dieser eine Sommer auf der Grand Isle ein, obwohl auch der ein tragisches Ende genommen hat.“
„Sie haben sicher gehört, dass auf der Insel eine Kirche gebaut worden ist, nicht wahr? Ich bin überzeugt, dass eine Spende im Namen Ihrer Mutter dort gern gesehen wäre.“
„Halten Sie das für wichtig?“
Er ging um den Schreibtisch herum und nahm direkt vor ihr auf der Ecke Platz. „In den kommenden Jahren werden Sie sich an sie erinnern – egal, wie sehr Sie sich dagegen wehren. Gehen Sie zur Einweihung der Kirche. Machen Sie aus Ihren Erinnerungen gute Erinnerungen.“
Plötzlich fiel ihr ein, wie die Arme dieser Frau sie vor den Schrecken des Sturms beschützt hatten. Ihre Mutter hatte ihr zweimal das Leben geschenkt. Jahre waren vergangen, seit Aurore an diese Frau gedacht hatte, die mit dem beginnenden Wahnsinn gekämpft und trotzdem mutig genug gewesen war, sich gegen grand-père Antoine aufzulehnen und auf ihr eigenes Herz zu hören. Dabei war Claire selbst so
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