Bis zur letzten Luge
zerbrechlich gewesen. Tränen stiegen Aurore in die Augen – Tränen, die sie nicht geweint hatte, als sie Spencer gegenüber all ihre Sünden eingestanden hatte.
„Ja“, erwiderte sie. „Ich danke Ihnen.“
Er reichte ihr beim Aufstehen die Hand und hielt sie noch eine Weile fest, als Aurore vor ihm stand. „Ihre Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben.“
Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte.
Während der gesamten Reise zur Grand Isle machte Aurore sich Sorgen um Hugh. Tagelang hatte sie über Spencers Rat nachgegrübelt. Doch erst als sie erfahren hatte, dass Henry während der Kirchweihe nicht in der Stadt sein würde, hatte sie sich zu der Reise entschieden. Ein letzter Anreiz war der Brief von Pater Grimaud gewesen. Pater Grimaud betreute inzwischen eine Gemeinde in Carenàlro, aber man hatte ihmvon Aurores Spende für die Kirche der Heiligen Madonna berichtet. Auch er wollte zur Einweihungsfeier erscheinen, und er schrieb ihr, dass er ihr bei der Gelegenheit etwas überreichen wollte.
Aurore war neugierig. Sie war Pater Grimaud nie begegnet, doch sie wusste, was er während des Sturms geleistet hatte. Er hatte mit einer Laterne am Fenster des Pfarrhauses gestanden, um so seine Herde in Sicherheit zu bringen. Aurores eigener Vater war der Einzige gewesen, der es bis zu ihm geschafft hatte. Unwillkürlich erinnerte Aurore sich an den heulenden Wind und die zitternden Wände. Was konnte der Priester ihr bloß geben wollen? Es musste sich um ein Andenken an diese Nacht handeln.
Auf der Insel richtete sie sich in einem kleinen rustikalen Gästehaus ein. Der Hurrikan hatte weitaus mehr bewirkt, als Häuser zu zerstören und Menschenleben zu beenden. Er hatte einen ganzen Wirtschaftszweig ausgelöscht. Nur sehr wenige Leute verbrachten ihren Sommer noch auf der Grand Isle. Die Hotels waren verschwunden, und von den Krantz-Cottages waren nichts als Erinnerungen geblieben. Zehn Jahre zuvor hatte man versucht, einen Schienenweg nach Gretna zu legen, aber das Projekt war gescheitert. Damit waren auch alle Hoffnungen erloschen, den Ruf der Insel als Gesundheits- und Vergnügungsresort wiederaufleben zu lassen. Aurore hatte Glück gehabt, überhaupt eine Unterkunft zu finden.
Nachdem sie sich kurz ausgeruht hatte, wanderte sie zum Strand. Sie erinnerte sich an den langen Weg dorthin und daran, wie verheißungsvoll und beinahe magisch er ihr früher vorgekommen war. Nun brauchte sie nur wenige Minuten bis ans Wasser. Sie sah auf die Wellen hinaus, die gemächlich ans Ufer rollten. In einiger Entfernung holten Männer mit Strohhüten Netze ein, die mit zappelnden und in der Sonne glänzenden Fischen gefüllt waren. Es gab jedoch keine Segelbootemehr, die langsam am Horizont vorbeischipperten. Keine Badenden, die sich im Wasser vergnügten. Möwen umkreisten die Seeleute, und Schildkröten tauchten nicht weit von ihr aus dem Wasser, aber die bunten, unbeschwerten Tage ihrer Kindheit waren vorbei.
Sie setzte sich an den Fuß einer Düne und blickte aufs Wasser. Die Sonne war dieselbe wie in ihrer Erinnerung, und die Strahlen zwickten Aurore noch genauso in die Wangen und in den Nacken wie früher, wenn sie nicht schnell genug den Sonnenschirm aufgespannt hatte. Der Sand war so feinkörnig wie damals; auch das Wasser war noch immer so graublau wie die Augen ihrer Mutter.
Ein fast friedvolles Gefühl erfüllte sie, als die Sonnenstrahlen mehr als nur ihr Gesicht zu wärmen schienen. Hoffnungen und Ängste, die sie tief in ihrem Innern verschlossen hatte, tauten auf. Fern von den Pflichten und Beschränkungen ihrer Ehe erinnerte sie sich an das kleine Mädchen, das so viel Freude an den Wellen und dem Oleanderduft der frischen Brise gehabt hatte. Dieses Kind hatte sich zu der Frau entwickelt, die nun hier im Sand saß. Und diese Frau war zu einem Wesen voller Lügen und Geheimnisse geworden.
Ti’Boo hatte recht gehabt.
Die Sonne hatte sich schon dem Horizont angenähert, als Aurore sich erhob und weiterging. Langsam schlenderte sie auf den Ort zu, an den sie sich während des Sturms gerettet hatten. Ti’Boos Onkel Clebert war inzwischen gestorben; das Haus stand nun leer. Es gehörte einem seiner Söhne, der in Thibodaux wohnte.
Der Himmel war fast dunkel, als sie die Stelle endlich fand. Das Haus stand dort in völliger Einsamkeit, und nur eine Gruppe knorriger Eichen und dichtes Unterholz schützten es vor neugierigen Blicken. Ein Vorhängeschloss versperrte die Tür. Kletterpflanzen rankten sich um das
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