Bis zur letzten Luge
das daraus hervorstach. Vielmehr ergaben alle Briefe gemeinsam ein Bild und erzählten zusammen die Geschichte jener Sturmnacht.
Pater Grimaud hatte Lucien auf gütige, priesterliche Art von jeder Schuld freigesprochen. Dennoch hatte ihr Vater den Briefwechsel aufrechterhalten, als wäre ihm die Vergebung versagt geblieben.
Am Nachmittag hatte Pater Grimaud sie gefragt, ob Lucien vor seinem Tod Vergebung gefunden habe. Diese Frage hatte Aurore verwundert. Ihr Vater hatte sich nie um geistliche Dinge gekümmert. Weshalb hätte es ihm etwas ausmachen sollen, ob der Gott, den er stets ignoriert hatte, ihm vergab oder ihn verdammte?
Doch das Bild, das sich aus den Briefen ergab, war das eines ganz anderen Mannes. Lucien war ein gequälter Mensch gewesen. In der Sturmnacht hatte er sich mit einem Boot mit einer Schwangeren und zwei kleinen Kindern darin fast bis zum Pfarrhaus vorangekämpft. Als sie beinahe in Sicherheit gewesen waren, hatte eine riesige Welle sie eingeholt. Er hatte das Seil loslassen müssen, sonst wäre er gestorben. Er hatte sein eigenes Leben gerettet, aber die anderen waren verloren gewesen.
Der Name der Frau war Marcelite gewesen. Ihre Kinder waren Raphael und Angelle gerufen worden.
Raphael?
Rafe hatte seinen Namen nach Nicolettes Geburt geändert. Hatte er damit seine wahre Identität wieder angenommen? War Raphael zurückgekehrt, um Lucien zu stellen?
Aurore dachte an den Mann, der sie auf dem Kirchplatz beobachtet hatte. Seine Haltung hatte sie an den Jugendlichen erinnert, dem sie am Bayou Lafourche begegnet war – stolz, wachsam und stets bereit zum Angriff. Im Laufe der Jahre war er zu einem Mann geworden, den andere Männer nicht so leicht herausforderten und den Frauen nicht so bald vergaßen. Seit sie ihn am Nachmittag gesehen hatte, konnte sie an nichts anderes mehr denken. Rafe und die Briefe ihres Vaters waren nun untrennbar miteinander verbunden.
Und was sollte sie mit diesen Briefen anfangen? Einige Unstimmigkeiten bewiesen, dass Lucien versucht hatte, wichtige Teile eines Puzzles zu verbergen. Manchmal bezeichnete er Marcelite als Fremde; dann wieder schrieb er über sie, als hätten sie einander lange gekannt. In einem Brief erzählte er auf außergewöhnlich poetische Art von dem kleinen Mädchen. Er schilderte, wie süß Angelle gewesen war, wie gesund und voller Leben. Wortgewandt hatte er festgehalten, wie warm sich Angelles kleine Ärmchen um seinen Nacken und wie zart sich ihre kindlichen Küsse angefühlt hatten.
Ein besonders merkwürdiger Brief stammte aus dem Jahr 1894, etwa ein Jahr nach dem verheerenden Sturm. Darin schrieb Lucien ausgiebig über seinen Schwiegervater Antoine und die Forderungen, die dieser gestellt hatte. In den folgenden Briefen wurde Antoine nicht mehr erwähnt. Je mehr sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, ein Zustand, über den er sich immer wieder ausführlich beklagte, desto wichtiger wurde es Lucien offenbar, dass niemand ihm seine Taten vorwerfen konnte.
Einiges blieb trotz allem rätselhaft, doch das Geheimnis, mit dem sie so lange gelebt hatte, konnte möglicherweise gelüftetwerden. Wenn Rafe tatsächlich Raphael war, dann hatte er vielleicht Lucien die Schuld am Tod seiner Mutter und seiner Schwester gegeben und Rache geschworen.
Aber warum hatte er sie als Mittel zum Zweck benutzt? Hatte sie ihm bloß den direktesten Weg geboten, um an Lucien heranzukommen? Hatte Rafe geglaubt, dass ihr Vater sie so sehr geliebt hatte, dass ihre Schande ihn zerstören würde?
Mit einer vollen Tasse Kaffee, der mittlerweile kalt geworden war, lief Aurore im Zimmer auf und ab. Rafe war zur Einweihungsfeier der Kirche gekommen. Hatte er sie verfolgt? Wollte er sie weiterhin bestrafen, sie noch mehr leiden sehen?
Sie hielt es nicht länger im Haus aus und ging hinaus auf die Veranda. Eine warme Brise zauste ihr Haar. Während sie in die Dunkelheit starrte, wurde ihr eines bewusst: Falls er sie noch immer bestrafen wollte, hatte er eine Million Möglichkeiten dazu verstreichen lassen. Vielleicht war er nur angereist, um Frieden mit seinen Erinnerungen zu schließen – so wie sie selbst.
Frieden. Konnte ein Mann wie Rafe jemals auf so etwas hoffen? Noch während sie sich einredete, dass das einfach unmöglich war, sah sie vor ihrem inneren Auge einen kleinen Jungen in einem vom Sturm umtosten Boot. Die Laterne im Fenster des Pfarrhauses musste ihm geradezu wie ein Wink des Himmels vorgekommen sein. Und dann hatte Lucien die einzige
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