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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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überstehen, ohne seinen Stolz zu verlieren.
    Warum war er also auf die Grand Isle gekommen? Und warum war Aurore hier erschienen – eine Aurore, die zehn Jahre älter war als das Mädchen, das er einst geliebt hatte? Während der Gottesdienst abgehalten wurde, konnte er sie unbemerkt beobachten. Sie saß weit vorn in der Kirche und trug einen breitkrempigen Hut, bei dessen Anblick er unwillkürlich an Scheuklappen denken musste. Er sah, wie stolz und aufrecht sie sich hielt, sah die Anmut, mit der sie sich hinknieteund aufstand. Und er bemerkte den sanften Schwung ihrer schmalen Taille. Obwohl sie ihn nicht gesehen hatte, war es ihm gelungen, einen kurzen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, als sie die Kirche betreten hatte. Die Jahre hatten den Ausdruck jugendlicher Unschuld aus ihren Zügen gewaschen. Stattdessen erkannte er dort nun eine weisere, kühlere Frau. Trotzdem hatte sie nichts von ihrer Schönheit verloren.
    Als die Messe beendet war, verließ er schnell das Gebäude, blieb jedoch auf dem Kirchplatz stehen. Auf der Grand Isle, dem Stiefkind des Staates Louisiana, gab es selten ein Ereignis von dieser Größenordnung zu feiern. Einheimische und Besucher versammelten sich vor dem Gotteshaus, während die kleinen Mädchen mit ihren bunten Kleidchen und die ordentlich gekämmten Jungen die Zeremonie aufgeregt erwarteten. Rafe erkannte unter den Anwesenden das eine oder andere bekannte Gesicht; dennoch unternahm er keine Anstalten, auf sich aufmerksam zu machen. Diese Zeit schien kein Teil seines Lebens zu sein, sondern zu Étienne Terrebonne zu gehören. Zu dem Jungen, der er nie gewesen war. An diesem Ort fühlte er sich dem Kind Raphael mehr verbunden.
    Aurore verließ die Kirche, und er sah zu, wie sie auf Pater Grimaud zuging. Den alten Priester wiederzutreffen hatte ihn mindestens ebenso überrascht, wie Aurore zu sehen. Rafe war sich sicher, dass Pater Grimaud sich an ihn erinnern würde. In seinen einsamsten Stunden hatte der Priester ihn immer freundlich behandelt. Er war einer der wenigen gewesen, die Raphael als Kind akzeptiert und in ihm nur eines von Gottes Kindern gesehen hatten.
    Aurore sprach mit dem Geistlichen, und als Pater Grimaud den Kopf neigte, streifte sein langer weißer Bart seine Soutane. Er richtete sich wieder auf. Selbst aus der Entfernung konnte Rafe die Wärme in den Zügen des Priesters erkennen. Er sah aus, als würde er eine alte Freundin begrüßen.
    Die Unterhaltung, die er gar nicht hören konnte, fesselteRafe. Aurore war damals noch viel zu jung gewesen und hatte Pater Grimaud mit Sicherheit nicht gekannt. Rafe beobachtete, wie der Priester einen Jungen zu sich heranwinkte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Daraufhin lief das Kind in Richtung Kirche davon.
    Aurore trat zur Seite, und andere Leute kamen, um ein paar Worte mit dem Geistlichen zu wechseln. Dennoch blieb Aurore stehen, bis das Kind aus der Kirche zurückkam. Der Junge trug etwas bei sich, das aussah wie ein dünner Stapel Papiere, die mit einer Schleife zusammengebunden waren. Er überreichte den Packen dem Priester, der daraufhin lächelnd den Kopf des Kindes tätschelte. Dann wandte Pater Grimaud sich Aurore zu und sagte etwas zu ihr, bevor er ihr die Papiere gab.
    Rafe sah zu, wie sie darin blätterte, die Seiten überflog und dem Geistlichen dann ins Gesicht schaute. Pater Grimaud legte die Hand auf ihre Schulter. Sie nickte ihm zu und überquerte dann den Kirchplatz.
    Rafe rührte sich nicht. Hier und jetzt verspürte er nicht das Bedürfnis, sie zur Rede zu stellen. Im Laufe der Jahre hatte er ein Stück Frieden gefunden, und er war auf die Insel gekommen, um diesen Frieden mit sich selbst noch auszuweiten. Doch niemand konnte ihn dazu zwingen, sich zu verstecken; es gab keine Schlacht, in der er sich kampflos ergeben würde.
    Zu Ehren des Festes ertönte erneut die Glocke. Beim ersten Schlag traf Aurores Blick den seinen. Sie starrte ihn an, bis das Läuten verklungen war. Dann lief sie ohne ein Wort an ihm vorbei.

28. KAPITEL
    D ie Dämmerung breitete sich still über der Insel aus, während Aurore die Briefe las. Außer dem Kreischen der Möwen war an diesem Abend nichts zu hören. Aurore stand einmal auf, um eine Lampe anzuzünden, ein zweites Mal, um die emaillierte Kaffeekanne mit kochendem Wasser zu füllen. Als sie die Briefe, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren verfasst worden waren, zu Ende gelesen hatte, ordnete sie die Seiten und las sie erneut. Es war kein einzelnes Ereignis,

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