Bis zur letzten Luge
nachsehen, was dort vor sich ging. Die lokalen Festbräuche interessierten ihn nicht – genauso wenig wie die Schlägereien, die sich höchstwahrscheinlich aus der verhängnisvollen Mischungaus Alkohol und Testosteron entwickeln würden. Aber die Klänge aus der Bar fesselten ihn, und ehe er sich’s versah, war er stehen geblieben und lauschte.
Trommeln wurden geschlagen, Trommeln wie die, die er in kleinen afrikanischen Dörfern gehört hatte. Männerstimmen sangen Worte, die er nicht verstand, und die Laute erfüllten die ganze Straße. Kinder bewegten sich im Takt oder schlugen zur Unterstützung Limonadenflaschen gegeneinander. Mütter mit Babys auf den Armen klatschten und stampften dazu.
Der Gesang wurde immer lauter, doch die Worte blieben ihm fremd. Die einzelnen Silben waren scheinbar ohne Sinn aneinandergereiht, strahlten zusammen jedoch eine seltsame, ursprüngliche Energie aus. Er hatte keine Ahnung, wann diese Veranstaltung begonnen hatte. Der Singsang steigerte sich langsam, aber stetig – vermutlich ging es bereits seit Stunden so. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, bewegte er sich im Rhythmus mit und trat endlich näher.
Er vergaß vollkommen die Zeit, während der Gesang und die Musik weiterhin anschwollen. Er war in etwas gefangen, das über die Zeit und über die Feierlichkeiten hinausging. Der Rhythmus war so alt wie der Herzschlag Adams, so sinnlich wie Eva, so verlockend wie die verbotene Frucht. Dann öffnete sich die Tür der Bar, und ein Mann in einem mit Perlen und Federn geschmückten Indianerkostüm trat heraus.
Die Menge vor dem Gebäude teilte sich, um ihm respektvoll Platz zu machen. Lautstark wurde die außerordentliche Schönheit der glanzvollen Verkleidung in Scharlachrot und Türkis bewundert. Der Mann blieb stehen und schwieg; schließlich lief er weiter und sah sich mit übertriebener Geste in der Gegend um.
„Das ist der Späher.“
Phillip drehte sich um und betrachtete den jungen Mann, der sich zu ihm gesellt hatte. Es war ein schlanker, athletischgebauter Jugendlicher. Seine einzige Verkleidung bestand aus einer Banditenmaske aus Satin, die er sich auf die Stirn geschoben hatte. „Ein Späher?“
„Ja. Das ist der Späher der WildwestKreolen.“
„Was bedeutet das?“
„Sie sind nicht von hier, oder?“
Zum zweiten Mal an diesem Morgen musste er es eingestehen.
„Die Wildwest-Kreolen sind ein Indianerstamm. Mardi-Gras-Indianer.“
Phillip hatte schon einmal von diesen Karnevalsgruppen gehört, die sich zu Mardi Gras als Indianer kostümierten und mit ihren unterschiedlichen Stämmen durch New Orleans zogen. Er hatte den Sinn dahinter nicht ganz verstanden, aber es hatte ihn auch nicht interessiert. „Was heißt das genau?“
„Das ist nur einer der Stämme. Davon gibt es hier viele.“ Erneut ertönten anerkennende Rufe, als ein weiterer verkleideter Mann durch die Tür kam. Sein Kostüm war nicht ganz so kunstvoll. Dafür trug er einen Stab, den am oberen und unteren Ende Federn in den gleichen Rot- und Türkistönen zierten.
„Das ist der Fahnenträger.“ Der junge Mann bewegte sich im Rhythmus des Gesangs, der noch immer aus der Bar drang. „Er trägt den ganzen Tag lang das Ehrenzeichen des Stammes. Der Späher hält Ausschau und gibt Zeichen, sobald sich ein anderer Stamm nähert. Sehen Sie einfach zu, dann bekommen Sie schon alles mit.“ Damit ging er zu ein paar anderen Jungen in seinem Alter, die an der Ecke standen.
Nachdem fast ein Dutzend Männer in immer aufwendigeren Kostümen herausgekommen war, trat der letzte des Stammes unter Jubel nach draußen. Die Menge empfing ihn mit lautstarker Begeisterung. Das Kostüm und der passende Kopfschmuck waren bereits spektakulär, doch der Mann darin war noch viel eindrucksvoller. Phillip überlegte, wie vieldie Verkleidung wog und wie viel Kraft es den Mann kosten musste, darin zu laufen. Eigentlich lief er gar nicht. Vielmehr schien er zu gleiten. Er stolzierte. Und er wirkte dabei ebenso würdevoll wie ein europäischer König.
Als die Indianer aufbrachen und die Straße entlangmarschierten, stimmten sie ein Lied an. Alle anderen, die kein Indianerkostüm trugen, folgten den Verkleideten in respektvollem Abstand, aber beim Refrain des Liedes sang jeder mit.
Der Jugendliche, mit dem Phillip sich kurz unterhalten hatte, lief an ihm vorbei und schloss sich dem Umzug mit den Indianern an der Spitze an. Er grinste Phillip an. „Hat Ihnen das Kostüm gefallen? Das war eben der Häuptling.
Weitere Kostenlose Bücher