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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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um.“
    Zögerlich nahm er die Kette entgegen.
    „Legen Sie sie um!“, wiederholte die Frau im Befehlston.
    „Wenn Sie Nicky Valentines Sohn sind, sollten Sie zumindest so aussehen, als würden Sie dazugehören.“
    Seit er an diesem Morgen auf die Straße hinausgetreten war, hatte er nicht zu dem bunten Treiben dazugehören wollen. In seinen Augen waren die gesamten Festlichkeiten anlässlich des Karnevals die reinste Zeitverschwendung. Er hatte immer bezweifelt, dass es überhaupt irgendetwas gab, das gefeiert werden sollte. Wohin er auch schaute, überall ragten wie im biblischen Jericho Mauern empor, die alle Josuas der Welt nicht zum Einsturz bringen konnten. Selbst die Paraden wurden getrennt voneinander abgehalten: Mit der Rex-Parade wollten die Organisatoren und einige andere Karnevalsgruppendie weiße Elite verkörpert wissen. Dagegen trugen die schwarzen Gestalter der Zulu-Parade tiefschwarzes Makeup im Gesicht, um auf kluge und ironische Weise die Großspurigkeit der Königsfigur auf der Rex-Parade zu verspotten.
    Dennoch legte er sich die bunten Perlen um den Hals und öffnete die obersten beiden Knöpfe seines Hemdes. Er legte sein Sakko ins Auto und schloss die Türen ab. Die Claiborne Avenue befand sich in einiger Entfernung. Trotzdem erschien es ihm leichter, sie zu Fuß zu erreichen, anstatt sich mit dem Wagen durch die Menschenmengen zu kämpfen. Schon die Fahrt zu Belindas Haus – oder vielmehr zu Belindas ehemaligem Haus – hatte ihn an den Rand der Verzweiflung getrieben.
    Weshalb hatte sie ihr Haus aufgegeben? Nach außen hin machte es zwar nicht viel her, die Zimmer waren klein, und einen Flur gab es nicht. Aber es hatte ihr gehört. Sie hatte dafür mit dem Geld bezahlt, das sie durch ihre Arbeit verdient hatte, die sie sehr liebte. Sie hatte es in Farben gestrichen, die ihn auf ewig an sie erinnern würden. Und es befand sich in einer Gegend, in der sie beliebt gewesen war und sie respektiert wurde. Dort hatte sie unterrichtet und ihren Schülern ihr kulturelles Erbe nähergebracht. Sie hatte immer ein Auge auf die Kinder gehabt, die auf der Straße gespielt hatten. Im Frühling hatte sie oft auf ihrer Veranda gesessen, wenn der blühende Jasmin seine ganze Pracht aus duftenden gelben Sternen entfaltet hatte.
    Und warum hatte sie ihm nicht Bescheid gegeben, dass sie umziehen würde? Egal, wie sie auseinandergegangen waren: Ihr musste klar gewesen sein, dass er zurückkommen würde.
    Heute brauchte er sie auf eine Weise, die er sich selbst bisher bei keinem anderen Menschen eingestanden hatte. Er musste ihr erzählen, was er über seine Familie herausgefunden hatte. Sie war die Einzige, die seine Verwirrung verstehen würde. Wenn er ihr vom Tod seines Großvaters erzählte,würde Belinda fühlen, was er gefühlt hatte. Er konnte sich darauf verlassen. Er konnte sich auf sie verlassen.
    Seit ihrer letzten Begegnung war kein einziger Tag vergangen, an dem er nicht den Telefonhörer in die Hand genommen hatte und ihr all das und noch mehr hatte mitteilen wollen. In der Vergangenheit hatte er ganze Monate getrennt von ihr verbracht. Doch nachdem ihre Beziehung fester und enger geworden war, hatte er tief in seinem Herzen geglaubt, dass er jederzeit nach New Orleans zurückkehren könnte. Und dass sie immer dort weitermachen würden, wo sie vor seiner Abreise aufgehört hatten. Diese Überzeugung hatte er verloren. Und an die Stelle dieser Gewissheit, dieser dummen, arroganten Gewissheit, war eine große Leere in seinem Innern getreten.
    An einer Ecke hielt er an, um sich zu orientieren. Die Häuser an der Kreuzung wirkten schäbig, wie es im Süden durchaus typisch war. Die tropische Sonne hatte sie verwittern lassen, und die Kletterpflanzen um die Türen und Fenster herum schienen sich zu winden und zu schlängeln, während er dabei zusah. Überall waren Menschen. Ein allgegenwärtiges leises, gleichmäßiges Pochen ertönte scheinbar direkt aus dem Boden unter seinen Füßen.
    Noch etwas anderes war zu hören. Es erinnerte weniger an Musik, sondern eher an ein Gebet. Es kam aus einer heruntergekommenen Bar in der Mitte des nächsten Häuserblocks, einer Bar wie so viele in dieser Stadt. Das Gebäude wirkte kompakt und war, soweit das zu erkennen war, überfüllt mit Menschen. Die Geräusche drangen aus den Fenstern nach draußen, und auf dem Bürgersteig vor der Bar stimmten Gruppen von Männern in den rhythmischen Singsang ein.
    Phillip wollte Belinda finden; er wollte nicht anhalten und

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